Constant Bernard kennt das Gefühl, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird: Er war in Haiti, als dort im Januar 2010 die Erde bebte.

Von der surrealen Erfahrung erzählt er heute noch immer wieder – ausgerechnet auf dem Flohmarkt. Dort betreibt er zusammen mit seinem Bruder Lionel einen Stand, der gleichzeitig ihre Hilforganisation Haiti 155 bewirbt.

Dort locken unter anderem schicke alte Sonnenbrillen, handgestrickte Schals – und Kunst. Meinen Blick fangen Fotos ein: Spielzeugfiguren vor einer unscharfen Skyline von Manhattan.

 

Constant Bernard, Haiti 155

Constant Bernard, Haiti 155

 

Ihretwegen komme ich mit Constant ins Gespräch – und erfahre nicht nur davon, wie Haiti 155 Menschen hilft, die immer noch unter den Folgen des Erdbebens leiden, sondern auch etwas über Einwandererkultur und darüber, wie ein Künstler sich im sauteuren New York über Wasser hält.

 

Constant, du verkaufst hier unter anderem deine Fotos von Spielzeugfiguren vor der Skyline von Manhattan: Wie bist du denn darauf gekommen?

Das kommt davon, jedes Wochenende auf diesem Flohmarkt zu stehen. Er ist beinahe zu meinem Atelier geworden. Mein Atelier ist im Moment auch die U-Bahn, da schreibe ich. Früher habe ich gemalt, aber dann hat man diese ganzen Arbeiten, meine ganze Wohnung ist voll davon, ein Teil steht in einem Lager, für das ich jeden Monat bezahle. Also habe ich entschieden, nein, habe ich gar nicht, mein kreativer Geist begann, etwas zu unternehmen –meine künstlerische Arbeit verlagert sich in Richtung Text. Die Fotos jedenfalls habe ich auf dem Flohmarkt gemacht.

Hast du die Figuren hier gesehen und dann damit herumgespielt oder wie funktioniert das?

BklynFleaDie meisten dieser Spielzeugfiguren habe ich hier gekauft, und mein Hirn fing an, zu arbeiten. Dann bauten wir unseren Stand in Williamsburg auf, wo der Brooklyn Flea Market im Sommer stattfindet, an einem Platz mit Blick auf die Skyline. Dort ans Ufer kommen jede Menge Touristen, und sie alle machen Fotos mit diesem Hintergrund.

Das brachte mich auf die Idee: Ich könnte doch diese Püppchen so zeigen. Da ich aus Haiti komme, ist Einwanderung auf irgendeine Weise immer ein Thema in meinen Arbeiten. Der Hintergrund hier, das ist New York City. Aus der Ferne. Das zeigt auch, wie teuer die Stadt geworden ist, um dort zu leben.

Was ist denn deine Meinung: Wie überlebt ein armer Künstler in New York?

Um ehrlich zu sein, dazu habe ich keinen Rat mehr. Das ist einfach so weit gegangen in New York City, so weit … da musst du schon im Lotto gewinnen. Ich kann nur sagen: Tu, was zum Überleben nötig ist. Oder geh woanders hin, wo das Leben billiger ist. Denn hier ist es jenseits von irrwitzig.

Wem sagst du das!

Und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Es wird höchstens noch schlimmer.

Dann müssen wir alle irgendwann die Stadt verlassen?

Letztendlich wird das passieren. Schau doch: Wir sind hier mit dem Flohmarkt jetzt in Crown Heights, das war mal ein vorwiegend karibisch geprägtes Viertel. Siehst du hier irgendwelche Leute aus der Karibik, oder irgendwelche Schwarzen? Wo sind die denn, wohin sind sie verschwunden? Das ist das Resultat.

Constant Bernard Haiti 155

Constant Bernard
ist in Port-au-Prince, Haiti geboren.
lebt seit 27 Jahren in New York,
derzeit in East Flatbush, Brooklyn.
arbeitet als Künstler, Flohmarkthändler und bei einer Brillenfirma.
gründete Haiti 155 im Jahr 2010 zusammen mit seinem Bruder Lionel.
kann sich trotz 7-Tage-Woche gut entspannen: Er macht Kunst. Oder Hausaufgaben und Sport mit seinem Sohn.

Und der Brooklyn Flea Market, wie hat der sich verändert? Ihr seid ja schon von Anfang an als Händler dabei.

Das hat sich sehr verändert, genau wie die wirtschaftliche Situation in New York. Die Leute hatten früher mehr zum Ausgeben übrig, ich sehe jetzt viel mehr, dass sie zu kämpfen haben. Außerdem gibt es den Flohmarkt jetzt schon einige Jahre. Am Anfang war die Energie hier sehr stark, klar: Es war etwas ganz Neues. Er hat immer noch die Energie, ist aber eben nicht mehr nagelneu. Und es gibt jetzt überall ähnliche Märkte.

Das ist natürlich mehr Konkurrenz.

Ja, es ist eben, wie es ist. Wenn du etwas anfängst, wird es Nachahmer geben. Das ist auch so mit meinen Bildern: So viele Leute machen Fotos davon, früher oder später macht jemand die Idee nach. Die Leute müssen ja auch alle Essen auf den Tisch stellen! (lacht) Man muss das hinnehmen und das Beste draus machen. Gerade mit den technischen Möglichkeiten heutzutage … die Leute sind imstande, sich noch selbst zu kopieren.

Du nimmst das ja echt leicht. Ich könnte mir also da hinten auch ein paar Figürchen kaufen und dir deine Idee klauen?

In der Kunst ist nichts so einfach, wie es scheint. Die Idee mag einfach sein, aber sobald du beginnst, sie umsetzen, merkst du: Hier brauchst du selbst Kreativität. Ich mache seit vielen Jahren Kunst. Das Machen ist die eine Sache für einen Künstler, den Geist dahinter aufzubauen, um Entscheidungen treffen zu können, in welche Richtung du deine Ideen nun treibst, das braucht viel Erfahrung.

Flohmarkt-Stand von Haiti 155

Du hast aber nicht Zeit deines Lebens fotografiert, oder?

Früher haben mein Bruder Lionel und ich Musik gemacht, wir hatten einen Plattenvertrag bei Island Records als Vodu 155. Nebenher haben wir Clubs geführt. Solche Nebengeschäfte haben wir immer gemacht. Ich arbeite sieben Tage die Woche: Das hier mache ich am Wochenende, und ich habe noch einen Nine-to-Five-Job bei einer Brillenfirma.

Woher kommt es, dass du immer auch irgendetwas verkaufst?

Vom Leben in New York! New York macht es unmöglich, einfach nur ein Künstler zu sein. Als wir den Plattenvertrag hatten, konnten wir es nicht erwarten, dass die Plattenfirma Werbung für uns macht. Also überlegten wir: Was können wir selbst tun? So kamen wir auf den Club-Markt. Wir mieteten uns einen Abend in verschiedenen Clubs, und da konnten wir dann für das werben, was uns wichtig war: unsere Platte, Haiti. Und das Verkaufen finden wir spannend, es ist eine Form der Kommunikation.

Wie seid ihr von Clubbetreibern und Discoveranstaltern zu Flohmarktverkäufern geworden?

Das Clubbing ist ja Jahre her, die Stadt hat sich verändert, die Bedingungen auch, wir haben langsam damit aufgehört. Dann machten die Jungs hier den Brooklyn Flea Market auf, und wir dachten: Das ist doch die perfekte Gelegenheit! So begannen wir, Vintage-Accessoires und -Kleider zu verkaufen und – wie immer – Haiti mit einzuflechten.

HaitiFlechten

Wir verkaufen Sachen und schicken Geld nach Haiti, das haben wir schon vor der Gründung unserer Organisation getan. Die meisten Einwanderer, die meisten Leute aus anderen Kulturen haben Familie in ihrer Heimat, um die sie sich kümmern. Wir schicken immer irgendwas dorthin, weil die Leute Hilfe brauchen. Diese Verbindung gab es die ganze Zeit.

Die Nummer 155 tragt ihr auch schon locker 20 Jahre mit: Vodu 155, Haiti 155 …

155 war die Hausnummer des Hauses in Haiti, aus dem wir kamen. Wir sind zwar in Brooklyn aufgewachsen, aber in Haiti geboren, und wir hatten immer eine Verbindung zu Haiti. Unser Geburtshaus war da das perfekte Logo.

Und wie landete es bei eurer Organisation?

Lionel und ich waren in Haiti, als das Erdbeben begann. Wir kamen an einem Montag an, und am nächsten Tag waren wir mitten in einem Erdbeben.

Warum wart ihr denn in Haiti?

Wir reisen immer hin und her. Wir haben dort ein Zuhause, Familie, und wir helfen den Leuten dort. Aber als wir nach dieser Reise wieder in den USA waren, entschieden wir: Wir müssen das, was wir bisher gemacht haben, noch deutlich steigern. Wir brauchten eine richtige Organisation, um das ordentlich zu machen und die passende Finanzierung aufbauen zu können. Einfach auf eigene Faust ein paar Container mit Kleidern hinzuschicken war uns nicht genug.

 

Haiti 155

 

Und was macht ihr jetzt?

Wir bauen gerade eine Eisdiele in Haiti. Wir machen das zusammen mit Blue Marble Ice Cream, die eine Organisation namens Blue Marble Dreams gegründet haben. Etwa 12 Frauen werden dort arbeiten, dort soll es auch ein Computerlab und Kurse geben. Dafür sammeln wir gerade Spenden auf einer Crowdfunding-Plattform. Außerdem arbeiten wir daran, Fischern in Haiti zu helfen.

Wie findet ihr solche Gruppen oder kommt auf Ideen wie eine Eisdiele?

Das ist das Potenzial, dass das Leben in New York City mit sich bringt. Oder auch dieser Flohmarkt. Wir treffen ganz unterschiedliche Leute. Die Verbindungen wurden alle hier geschmiedet.

Da kommt einer vom Blue Marble Ice Cream-Stand rüber und sagt: Hey, ihr seid aus Haiti, cool, wir machen was zusammen?

So läuft das natürlich nicht. Diese Firmen haben immer auch eigene Interessen, die erzählen sie uns, wir sagen ihnen, was wir im Sinn haben, dann stecken wir die Köpfe zusammen. Sie hatten schon eine Eisdiele in Afrika gebaut, und wir hatten schon Land, also einen Standort für einen Laden in Haiti. Das passte perfekt.

Wirst du es manchmal leid, deine Haiti-Geschichte immer und immer wieder zu erzählen?

Nein, das gehört dazu. Bei einer gemeinnützigen Organisation ist Kommunikation alles. So spricht sie sich herum. Und diese Projekte sind ja auch anregend. Etwas zu tun, das dir am Herzen liegt, gibt einem Kraft. Und wenn man bedenkt, dass in Haiti Kinder hungern, dagegen ist es doch wohl ein Klacks, meine Zeit mit Reden zu verbringen. Außer dass ich vielleicht heiser werde (lacht).

 

Constant Bernard auf dem Brooklyn Flea

 

Die Indiegogo-Kampagne für die Eisdiele läuft noch bis zum 23. Januar 2015. Alles über Haiti 155 gibt es auf der Website. Und hier im Blog gibt es noch mehr Interviews mit kreativen Menschen aus New York.
 
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