Morgens nach dem Aufstehen sinkt das Fieber auf Normalwerte, ich fühle mich ganz gut. Brav lasse ich den bereits vereinbarten Arzttermin für den Nachmittag stehen. Der Doc kann mir sicher helfen, mich noch schneller noch besser zu fühlen. Irgendwo auf einer abendrotgefärbten Wolke über Bangladesch keckert ein Äffchenengel. Das hatte ich mir ja schön ausgedacht.

Plötzlich fühlt sich alles ganz falsch an. Das Fieber ist wieder da, denke ich, und dann dämmere ich weg.

Es ist doch schon wieder etwas besser, sage ich mir, als ich die Treppen heruntersteige. An der U-Bahn kommt gerade eine Prozession von Irren an, die über irgendetwas streiten. Das ist der erste Moment des Zweifels, und er will Gesellschaft: Ist das real? Ich habe den Eindruck, dass meine Augen nicht nur im Spiegel glasig aussahen, sondern auch durch dickes Glas sehen. Aber diese Typen kenne ich, die arbeiten da irgendwo in der Nähe. Das ist real.

In der U-Bahn lutsche ich ein Bonbon und hoffe, das hält den Husten im Zaum, aber daraus macht mein Hirn die Vision eines hustengetriebenen klebrigen Wurfgeschosses. Nach einer Station wird ein Sitzplatz frei. Ich brauche ewig für die paar Schritte, er ist aber immer noch frei. Siehste, sage ich mir, du hast heute Glück. Das Engeläffchen schlägt vor Begeisterung einen Salto.

An der nächsten Station steigen ungefähr 15 Schulkinder ein, Middle School, würde ich sagen. Sie teilen sich in drei Gruppen. Eine ganz kleine bildet eine Art Puffer und steht vor mir, die anderen beiden Gruppen erklären lautstark, wie sehr sie einander hassen, und bieten den anderen gleichzeitig Schokolade an. Ich frage mich, ob Gift im Spiel ist. Es ist aber natürlich ganz anders.

“Ladies and Gentleman”, ertönt es, und schon schiebt sich der U-Bahn-Schokoverkäuferjunge vor mich. Vielen von denen haben ihre ganz eigene Art, die Ware anzupreisen. Seine Methode: Die Nervigkeit von Kindern. Für seinen Pitch stellt er sich direkt vor mich. Mehrfach schreit er, dass er uns auf die Nerven geht, und dass das eben das sei, das Kinder am besten könnten. Ich glaube, das macht ihm Spaß, bis er mir seine Ware auf die Füße fallen lässt. Sein Zischeln, dass er jetzt echt die Nase voll hat, höre wohl nur ich.

Er sieht, was passiert ist, und entschuldigt sich. “Macht nix”, höre ich meine Hülle sagen. Wir stehen im Tunnel. Eins der Schulmädchen kauft einen Schokokeks für einen Dollar. Der Junge kramt ihn zwischen meinen Füßen her. Dann lasse ich mich nach draußen schieben.

Unterwegs kommt mir ein Mann entgegen. Mein Zustand gaukelt mir vor, er trage eine volle Feuerwehrmontur. Oben steht noch so einer. Und mehrere Löschzüge. Von hier fährt so schnell keine Bahn mehr.

Nachdem ich dem Arzt meine Symptome geschildert habe, stellt er mir sehr, sehr viele Fragen. Auch beim Atmen hört er mir zu. Danach darf ich mich wieder setzen, schön langsam, und er sagt ganz ruhig: Das könnte eine Lungenentzündung sein.

Einer meiner Lungenflügel sei deutlich schwächer beim Atmen. Allein der Gedanke macht mir Atemnot also frage ich lieber: Und wenn, ist das ansteckend? – Ja, sagt der Doc. Und dann schickt er mich raus.

Zum Röntgen muss ich in eine andere Praxis. In solchen Momenten hasse ich das amerikanische Gesundheitssystem. Mein Arzt weiß, wie schlecht ich mich fühle. Deshalb fragt er, ob ich Präferenzen habe oder in die Nähe will. So nah wie möglich, sage ich. Er findet Spezialisten in weniger als einer halben Meile und gibt mir den Überweisungszettel samt Adresse. Noch schwant mir nichts. Der Äffchenengel starrt gebannt von seinem Wölkchen. Er wartet auf ein Weihnachtswunder.

Bald merke ich, dass ich auf dem Weg ins Epizentrum des New Yorker Weihachtstrubels bin, nachmittags um halb fünf, drei Tage vor dem Fest. Das Fieber und das Schwindelgefühl sorgen dafür, dass ich irgendwie schwebe, so wie an mir Gesichter vorbeizuschweben scheinen. Die Glitzerlichter sind allesamt leicht unscharf und zwacken fröhlich an meinem Kopfschmerz. Innen drin in jenem Kopf gleitet ein Vorhang geräuschlos über Schienen, wie ferngesteuert gehe ich langsam weiter, so wie es mein Atem erlaubt, und währenddessen wähne ich mich als Darstellerin in einem Horrorfilm: Ich stecke all diese ahnungslosen Menschen mit einem Monstervirus an, ferngesteuert, einfach losgeschickt irgendwie. Keiner von denen nimmt mich auch nur wahr. Das Sausen der Glastür holt mich zurück in so eine Art Realität.

Ein Mann namens Nick wartet geduldig, bis ich das doofe Leibchen angezogen habe, das man hier für jede Untersuchung anziehen muss, und ich verzweifle fast an dem Schloss in der Umkleide. Dann stellt er mich für die Röntgenbilder hin, und ich merke, er ist Schlimmeres als mich gewohnt. “Hands up high, touch the sky” sagt er bei der zweiten Einstellung und wartet geduldig. So was ist doch eigentlich gar nicht anstrengend, und vor allem glaube ich dabei normalerweise nicht, dass ich tatsächlich den Himmel anfassen … Dann darf ich gehen. Den Rest macht Frau Doktor ohne mich.

Als ich die Praxis verlasse, führt mich der Typ vor mir quasi in die nebenan gelegene Bank. Das ist mein Weihnachtsgeschenk, denke ich. Ich habe noch sieben Dollar und der Tasche und hatte mich schon gefragt, wie ich damit über die Runden kommen soll. Und dann passiert’s. Als ich aus der Geldautomatenbude trete, schlägt mir gleichzeitig eine unendliche Erschöpfung entgegen und dieses Bild.

Rockefeller Center Christmas Tree 2016

Das ist der Rockefeller Christmas Tree. Und das war für diese Saison alles, was ich noch an Weihnachtlichem erleben werde.

Aber es wartet noch ein Geschenk auf mich. Ich finde eine weniger verstopfte Avenue und ein Taxi. Als ich mich dankbar in den Sitz sinken lasse, voller Dankbarkeit, mich endlich ausruhen zu dürfen, stelle ich fest: Ich habe den redseligsten Taxifahrer erwischt, den ich je hatte.

Er macht die Scheibe ein Stück auf, damit ich ihn gut hören kann, und ich bin zu matt, um ihn zu stoppen. Binnen drei Blocks weiß ich, dass er ein Workoholic ist, der kaum Geld ausgibt, außer für Schuhe, seine große Schwäche. Ich weiß auch, wieviel seine zwei neuesten Paar Schuhe kosten (Originalpreis und das Schnäppchen, das er machte), und dass er eines von ihnen jetzt trägt. Für einen Moment glaube ich, er reckt die jetzt in die Höhe, aber er ist schon zu den Lederhandschuhen gewechselt, die ich mir tatsächlich anschauen darf, 59 Dollar haben die gekostet, und er hat sie schon seit sechs Jahren.

Irgendwie schaffe ich es, ihn zu einem Thema anzustoßen, das meine Aufmerksamkeit besser halten kann, und schon finde ich mich in einer wilden Einwanderungsgeschichte wieder. Zum Schluss kriege ich noch einen (kostenlosen) Rat, und ich hoffe, dass er sich nicht im Gegenzug ein Stück vom Monstervirus …

Als ich kurz darauf an der Selbstbedienungskasse der Apotheke stehe und Hustensaft über den Scanner ziehe, geht der Alarm los. Das ist ein Produkt für Erwachsene, leuchtet auf dem Bildschirm. Eine Mitarbeiterin steht ganz in der Nähe und regt sich nicht. I need help, sage ich, und nicke ihr freundlich zu. Dabei denke ich in Wahrheit an die Treppen in den fünften Stock.

Park Avenue Christmas 2016

Epilog:

Ich habe keine Lungenentzündung, sondern eine schwere Viruserkrankung (ohne Monster, jedenfalls haben die beiden Ärzte keine erwähnt). Da es mehr als einen Tag gedauert hat, diese Geschichte aufzuschreiben, werde ich den Blog für die nächsten Tage wieder ruhen lassen, so wie mich selbst.

Euch wünsche ich fröhliche, friedliche Feiertage. Streckt zwischendrin mal die Hände bis in den Himmel und atmet tief ein und aus!