Ihre Tochter war irgendwo da unten. Wo genau, kann sie nicht sagen. “Das hier war ein Platz, den ich mir leisten konnte”, sagt sie, und ich nicke wissend. Weiter unten geht man durch hübsche Türen, die einem das Gefühl geben, in die Familienloge einzutreten.

Wir hingegen sitzen oben im Dressing Circle der Carnegie Hall, wo fast alle durch dieselbe Flügeltür hineinkommen, und wo die Platzanweiserin immer wieder bellt: Keine Fotos. Wir dürfen es zwar nicht dokumentieren, aber: Wir sitzen genau in der Mitte. “Ein Opernglas wäre nicht schlecht”, räumt die Frau ein. Sie hat ihre Brille vergessen. Hätte sie mir früher gesagt, dass sie kurzsichtig ist, hätte ich doch versucht, ihr meine Sehkraft – oder zur Not meine Brille – zu leihen.

Wir freuen uns. Eben haben wir die Weltpremiere des Festival Te Deums von David N. Childs erlebt, und die Tochter der Frau neben mir war eine der Chorsängerinnen. Eine andere war auf Krücken hineingehumpelt, um sich dann in der Mitte der ersten Reihe auf ein Barhocker zu hieven. So etwas will man ja nicht wegen eines kaputten Fußes verpassen, sind wir uns einig.

Ganz jung sind die Menschen, die unten auf der Bühne singen, trompeten, auf die Pauke hauen und so weiter. Für den Chor der Tochter meiner Nachbarin gab es zwar eine gemeinsame Busfahrt auf dem Hinweg. Nach Hause kommen müssen die Sängerinnen und Sänger aber in Eigenregie. “Sie haben wohl gedacht, dass sowieso alle Eltern kommen”, lacht die Frau, bevor sie sich auf den Weg macht, um die Mitfahrgelegenheit für sich und ihre Tochter im Gewühl zu finden. So kriegt man den Saal natürlich auch voll.