Vielleicht lese und sehe ich ja nur die falschen Beiträge. Aber es kommt mir so vor, als ob “Occupy Wall Street” immer nur in Bewegung gezeigt wird – sie marschieren hierhin und dorthin, gestern ja zum Beispiel massenhaft durch den Verkehr am Times Square. Doch der Zucotti Park, in dem die Aktivisten ihr Hauptquartier haben, ist kein Campingplatz für Demonstranten.

Den ganzen Tag über gibt es, oft parallel, größere Gruppen mit lauten Rednern und kleine Sitzkreise mit intimer Diskussion, und an jeder Ecke finden sich Leute, die Fragen stellen und Leute, die antworten und Leute, die sich dazustellen und mitreden. Weil man das bei den Märschen, die natürlich auch stattfinden, nicht so direkt sieht, ist es so leicht, Occupy Wall Street als Protestbewegung zu sehen. Aber hier gibt es keine einfache Anti-Haltung, auf die sich alle einigen könnten.

Verantwortlichkeit wäre noch am ehesten ein Stichwort – die Menschen hier fordern sie sowohl von der US-Regierung als auch von Banken und anderen Unternehmen ein. Aber zuallererst von sich selbst. Deshalb demonstrieren sie hier – im Wortsinn – wie Partizipation funktioniert. Sie sind unorganisiert, aber nicht desorganisiert. Und wenn sie bisher eines geschafft haben, dann das: Hier sprechen die Menschen miteinander. Schließlich ist der Platz für jedermann frei zugänglich – und die ganzen Plakate, die reihenweise Aktivisten so halten, dass man sie von den umgebenden Straßen aus sehen kann, sind eine Einladung.

[audio:https://www.moment-newyork.de/wp-content/uploads/OWS2.mp3|titles=Leute, die vorher nie miteinander in Berührung gekommen sind]

In einer Ecke sitzt eine Meditationsgruppe, in einer anderen werben Anarchisten für eine neue Gesellschaft, eine Feministin hält die “Vagina Monologe” in die Höhe, Umweltschützer diskutieren über das Greywater System, das sie für Abwasser aufgebaut haben, amerikanische Ureinwohner konfrontieren Passanten mit der Idee, die Wall Street zu entkolonialisieren, zwei Stahlarbeiter diskutieren den Sinn von Gewerkschaften, eine ältere Dame strickt für die Bewegung und sagt jedem, der vorbeikommt, er solle bloß nicht alles glauben, was man ihm erzähle.

Und diese junge Frau sagt, der Satz auf ihrem Schild sei ihr morgens eingefallen. An drei Tagen zuvor hatte sie Alan Greenspan kritisiert. Sie kommt zwischen ihren Jobs hierher, um einen Beitrag zu leisten und mit anderen Menschen zu reden. Dass alle auf dem Platz hier permanent fotografiert und gefilmt werden, habe sie anfangs durchaus etwas verunsichert. Aber inzwischen, so sagt sie, habe sie verstanden: Es ist wichtig, dass sie sichtbar sind. Auch unter den Hochaktiven hier bleiben längst nicht alle über Nacht. Aber auf dem Platz gibt es ständig etwas zu tun, damit die Diskussion weitergehen kann. Unter anderem betreuuen Helfer eine Küche, eine Krankenstation, ein umfangreiches Müll-Recycling, eine Bücherei, eine “Comfort Station”, in der man Kleidung bekommen kann, sogar eine Stromstation für Mobiltelefone. Und ein schwarzes Brett mit den Treffen der Arbeitsgruppen, die das alles am Laufen halten.