Oh, wie ich diese Jahreszeit in New York mag. Der offizielle Sommer fängt am Memorial Day an. Vorher wird es auch schon warm, aber das zählt nicht für die Massen. Es ist Vorsaison. Und da mache ich besonders gern etwas, das Touristen überhaupt nicht mit New York verbinden: Ich fahre an den Strand.
Offenbar sind die Wolkenkratzer so mächtig, dass man leicht vergisst: New York liegt am Meer. Manhattan ist eine Insel, zwar nur in einem Fluss. Aber es gibt ja noch andere Stadtteile. Und viele schöne Strände, und wir reden jetzt nicht von den schicken Hamptons. Dieser Strand hier ist in Far Rockaway, weit draußen in Queens, und wenn der Wind entsprechend steht, sieht man hier Flugzeuge den JFK-Airport anpeilen. Sonst ist nichts los. Die Lebensretter schieben erst ab Ende Mai (Memorial Day, wie gesagt) Dienst, und dann erst kommen die Schwimmer.
Was aber nicht heißen soll, dass aus dem Meer nichts angeschwommen kommt. Ich arbeite an einer Fotoserie mit Treibgut, und zu meinen heutigen Funden zählen eine total verbeulte Plastikflasche und der merkwürdig zerschredderte Boden einer Dose. Und dieses possierliche Tierchen.
Ein paar Fliegen surren drumherum, und ich denke, tja, es waren halt noch keine Lifeguards zur Stelle. Ich gehe näher ran. Aber dann bewegt sich das Tier auf einmal, bläst sich auf und fällt in sich zusammen, als hätte es entnervt geseufzt. Es sieht nicht freundlich aus. Ich trau dem Ding nicht. Später sehe ich eines, das gerade angeschwemmt wird und dabei auf den Rücken trudelt. Ganz schön viele Beine oder Arme oder Stacheln oder was auch immer kribbeln da die Luft. Ich wünschte, die Lebensretter wären schon da, damit ich die fragen könnte, was das denn bitte für ein Wesen ist – und ob es den Strandaufenthalt normalerweise überlebt.
locklin
Mai 22
Manchmal, so stelle ich mir vor, ist es das europäische “Strandgut”, dass in NY einfällt, die Strände und die Straßen verstopft, ähnlich der vielbeinigen/armigen/stachligen Dingern, die mit vielen Händen Postkarten verschicken um den Daheimgebliebenen, also der Mischpoke, die sich keinen Urlaub in NY leisten kann, Eindrücke zu vermitteln, die sie höchstens am Rande einer Stadtrundfahrt kennen gelernt haben.
Ein leerer Strand, gleich am Rande einer Metropole, “unprotected”, verlassen bzw. ohne Trubel, könnte ein Stück Magie sein, wäre da nicht der Memorial-Day, der vom Gedenktag des amerikanischen Bürgerkrieges zum Saisonauftakt avancierte.
P.S.
Bei Lektüre dieses Eintrags konnte ich beinahe das Meer riechen.
Petra Engelke
Mai 22
Ich denke, der Teil des Strands, an dem ich das “Unprotected”-Schild fotografiert habe, bleibt auch den Sommer über unbewacht. New York hält seine Hand über die Magie.
Zum Memorial Day gedenken die New Yorker selbstverständlich der Geschichte. Schon Tage zuvor werden die Friedhöfe geschmückt, und man muss sich eben entscheiden, ob man am Festtag zum Friedhof oder zum Strand fährt. Oder beides nacheinander (da kann man dann überlegen, wo das Picknick besser passt).
Die possierlichen Tierchen sind übrigens Pfeilschwanzkrebse. Urzeitliches Getier, hier heißt es Horseshoe Crab. Bald kommt der Tag (abhängig von Mond und Gezeiten), an dem sie an bestimmten Stränden in Scharen auftauchen, um ihrer Bestimmung zu folgen und die Nachkommenschaft zu sichern.
Dass die europäischen Touristen an den New Yorker Stränden einfallen, wage ich zu bezweifeln. Die meisten sind ja nur ein paar Tage da, die schon mit ein paar Blitzeindrücken von Manhattan ruckzuck aufgebraucht.