James Weeks schuftet im New Yorker Hafen als Schiffsbelader, aber er hat eine Vision: Freiheit. Und zwar nicht nur für sich selbst. Der Bundesstaat New York hat die Sklaverei zwar im Jahr 1827 abgeschafft, aber Schwarze können deshalb noch lange nicht tun, was sie wollten. Viele Berufe und Arbeitsplätze bleiben ihnen versperrt, und vor jedem bisschen Mitbestimmung tut sich eine Hürde auf: Wählen dürfen Schwarze nur, wenn sie Eigentum im Wert von 250 Dollar besitzen. Das bringt James Weeks auf eine Idee, die später seinen Namen tragen wird: Weeksville.

Manchmal liegen die Stärke einer Geschichte in ihren Lücken. Wenn ich euch zum Beispiel einen Krimi aufschreiben würde, wo ein Mann mit gezogener Pistole in ein Haus geht, man einen Schuss hört und er dann wieder hinauskommt: Der eigentliche Krimi steckt in dem Teil, den ihr nicht erfahrt. Dass auch der Kern der Geschichte von Weeksville sich in dessen historischen Lücken versteckt, begreife ich erst, nachdem ich dort war.

Vier Häuser sind übriggeblieben von Weeksville. Drei davon sind liebevoll restauriert und mit Relikten aus drei verschiedenen Zeiten eingerichtet, und die kann man bei einer Tour des Weeksville Heritage Centers besuchen (aber leider nicht fotografieren): Zuerst eine Miet-Doppelhaushälfte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, dann ein geräumiges Eigenheim aus der Zeit der Jahrhundertwende, und dann ein Familienheim, das trotz der Großen Depression mit Kinderspielzeug und Plattenspieler ausgestattet ist. Arm waren sie nicht, die Bewohner von Weeksville.

Weeksville in Brooklyn

James Weeks und einige andere Schwarze haben Land entdeckt. Weit draußen, nach einer unbequemen Reise mit der Fähre über den East River und quer durch Brooklyn auf dem platten Land steht ein großes Grundstück zum Verkauf. Weeks kauft davon, so viel er kann, um sein Grundstück dann in Parzellen aufzuteilen und als Bauland zu bewerben – gezielt bei anderen Schwarzen.

Auch sechs andere Schwarze investieren. Ob er sie alle davon überzeugt, sich zusammenzutun, oder nur einige, oder ob sie einfach gleichzeitig die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, das weiß man nicht. Bekannt ist: Weeks ist nicht der Erste, der dort Land kauft, und auch nicht der größte unter den Investoren. Er ist aber der Anführer der dortigen Wahlrechtsbewegung. Und die Idee funktioniert; bald schon darf eine ganze Reihe der neuen Grundbesitzer wählen.

1838 beginnt die Geschichte von Weeksville, und bereits fünf Jahre später florieren dort die Geschäfte. Eine Familie nach der nächsten lässt sich dort nieder, in den Häusern mit Platz für Gemüsegarten, Hühner und Schweine wohnen Schuster und Zimmerleute, Pferdehändler und Schneiderinnen, Zigarrenhersteller und Prediger, Lehrer und Unternehmer, Ärztinnen und Immobilienspekulanten.

Neben einer unabhängigen Wirtschaft baut Weeksville seine eigenen Kirchen auf, es gibt eine Schule und ein Krankenhaus, Wohlfahrtorganisationen, Altenheim und Waisenhaus, allesamt für Schwarze. Aus Weeksville kommt auch eine der ersten afroamerikanischen Zeitungen, “Freedman’s Torchlight”. Auszüge daraus stehen in der Eingangshalle des Weeksville Heritage Centers – und illustrieren, dass die Zeitung auch beim Lesenlernen helfen sollte.

Weeksville Freedman's Torchlight

 

Weeksville Freedman's Torchlight

Nur die wenigsten unter den ersten Siedler von Weeksville können lesen und schreiben. Aber bereits 1865 sind 93 Prozent der Bewohner alphabetisiert. Zur selben Zeit verbreiten fiese Weiße in New York mit eigenen Pamphleten die Vorstellung, Schwarze könnten den Begriff abolition nicht einmal aussprechen, geschweige denn lesen. Was für Rassisten!, denkt man heute. Aber solche Propaganda wirkt. Auch das wird mir in Weeksville erst so richtig klar.

Da hat New York ganz langsam, aber noch vor dem Bürgerkrieg die Sklaverei beendet und dann mindestens so langsam auch das Wahlrecht für Schwarze an das für Weiße angeglichen. Dazwischen haben Schwarze mit Zusammenhalt, Unternehmergeist und politischem Engagement das vorgelebt, was einmal der amerikanische Traum werden sollte, und clever für ihre Rechte gekämpft – aber das erfährt man nicht.

Erinnert ihr euch an die Sache mit dem Krimi vorhin? Hier geht es mir ähnlich. Der Kern der Geschichte von Weeksville liegt darin, dass sie eine Lücke in der Geschichte New Yorks darstellt. So eine Erfolgsgeschichte widerlegt ja nun auch die Propaganda, Schwarze seien arm, ungebildet und abhängig – wie es sich die Sklavenhalter als Rechtfertigung für Menschenrechtsverletzungen zurechtgelegt hatten. Und jetzt ist 2018, und die Geschichte dieser schwarzen Gemeinde ist so gut wie unbekannt geblieben.

Selbst im Black History Month (jeden Februar). Da glitzert in New York die Harlem Renaissance mit den coolen Jazzclubs einer Zeit fast hundert Jahre nach der Gründung von Weeksville, und Kirchennamen ploppen auf, in denen Aktivisten wirkten. Malcolm X zum Beispiel. Letztes Jahr durfte man obendrein den Kopf darüber schütteln, dass der Präsident offenbar nicht weiß, dass Frederick Douglass schon lange verblichen ist. Ein Blick auf dessen Konterfei hätte es verraten.

Wie James Weeks aussah, weiß niemand mehr. Es gibt kein Foto von dem Mann. Die Broschüre des Weeksville Heritage Center ziert eine Frau im so atemberaubend eng geschnürtem Korsett und aufwändig drapiertem Kleid, dass Modebloggerinnen ihren Namen ehrfürchtig gewispert hätten, hätte es vor 150 Jahren schon Modebloggerinnen gegeben.

Heute heißt sie Weeksville Lady – niemand weiß ihren Namen oder sonst etwas über sie. Dabei sollte man meinen, der Wohlstand und Aufschwung in Weeksville wäre bis heute sichtbar. Doch mit der Eröffnung der Brooklyn Bridge 1883 wandelte sich das plötzlich bestens erreichbare Brooklyn und damit auch Weeksville. Viele der Jüngeren zogen fort, und ein Strom von Einwanderern aus Europa folgte ihnen.

Beinahe wären die letzten Häuser von Weeksville abgerissen worden. Und über deren Bewohner wissen wir zwar einige allgemeine Dinge wie die, von denen ich euch erzählt habe, aber nur wenige Details. Das Weeksville Heritage Center plant für dieses Frühjahr eine Ausstellung, bei der Dinge gezeigt werden, die bei Ausgrabungen in Weeksville gefunden wurden. Eben jene gehen übrigens auf die Initiative eines neugierigen Historikers und einer ganzen Schar örtlicher Schüler vor 50 (!) Jahren zurück.

Weeksville Heritage Center Brooklyn

Weeksville Heritage Center, 150 Buffalo Avenue, Crown Heights (Brooklyn), Öffnungzeiten und Details auf der Website.

Mehr solcher Geschichten aus New York? Melde dich für die Wochenschau an.