Verlust und Trauer sind spannende Themen, solange man nicht selbst betroffen ist. Wenn Bücher, Theaterstücke oder Filme zum Heulen sind, ist das meist ein Kompliment an die Beteiligten. Auch bildende KünstlerInnen schnappen sich Dramen und machen etwas draus. Umso besser – und aufsehenerregender – wenn der Stoff aus der Wirklichkeit stammt. Also nehm ich euch mit, mal gucken, wie Kunst es in New York schafft, das schwer Fassbare greifbar zu machen. Und nein, ich schreibe jetzt nicht über das 9/11 Memorial, sondern über eine andere Gedenkstätte gar nicht weit davon entfernt, aber fast völlig unbekannt. Dabei hat sie sogar einen Bezug zu Deutschland.

Marisol Escobar American Merchant Mariners Memorial

Ja, nee, schon klar, dass gerade jetzt die Stege und Uferbefestigungen repariert werden müssen und ich nicht so nah an das Denkmal herankomme, wie ich es gerne hätte. Aber ihr seht was, nech? Da sind drei Menschen auf einem Schiff zu sehen, und das ist keine Butterfahrt. Ihr Schiff ist schon halb untergegangen, die Situation wirkt prekär, einer scheint um Hilfe zu rufen. Zu allem Unglück ist ein weiterer Mensch im Wasser, und um Fingerbreite verfehlt seine Hand die der Kameraden.

Die Skulptur der Künstlerin Marisol Escobar ist den Seeleuten der US-Handelsmarine gewidmet: “This memorial serves as a marker for America’s merchant mariners resting in the unmarked ocean depths”, steht da. Es soll als Markierungspunkt für die Mitglieder der US-Handelsmarine dienen, die in den unmarkierten Tiefen des Ozeans begraben sind. Die Merchant Marine schippert in Friedenszeiten auf zivilen Schiffen allerlei Güter oder Passagiere durch die Gegend, im Kriegsfall befördert die Handelsflotte vor allem Nachschub für die Truppen.

Die Künstlerin hat sich die Szene für das American Marchant Marine Memorial nicht aus den Fingern gesogen. Ein Foto aus dem II. Weltkrieg gab eine prima gruselige Vorlage ab. Es zeigt sieben Überlebende eine Torpedoangriffs auf einen Öltanker der US-Handelsmarine durch ein deutsches U-Boot. Sie sitzen in einem kleinen, hölzernen Rettungsboot, fotografiert während U-Boot Kapitän Reinhard Hardegen sie kurz befragte. Danach blieben die Überlebenden sich selbst überlassen. Keiner von ihnen kehrte je an Land zurück.

Hardegen versenkte in seiner Karriere bei den Nazis 22 Schiffe. Kurz nach dem Krieg baute er ein Ölhandelsgeschäft auf und wurde Mitgründer der Bremer CDU. Er starb im Juni 2018 im Alter von 105 Jahren.

Marisol Escobar American Merchant Mariners Memorial

Seit 1991 steht in New York dieses Denkmal mit den Überlebenden, die dann doch keine Chance aufs Überleben hatten. Zweimal am Tag ist der vierte Mann, der nicht auf dem Boot sitzt, komplett unter Wasser. Mit jeder Flut ertrinkt er aufs Neue, und selbst wenn ihr ihn bei Ebbe anschaut, seht ihr anhand der dunklen Wasserlinie drumherum ganz genau, was passieren wird. Es ist zum Heulen.

Marisol Escobar arbeitete Ende der 80er Jahre am American Merchant Mariners Memorial. Da konnte sie nicht ahnen, dass sich Szenen wie in ihrem Denkmal heute massenhaft abspielen – ganz ohne Torpedos.

Das American Merchant Mariners Memorial findet ihr im Battery Park (neben dem Pier A).