Es ist erst morgen soweit.
Aber man muss ja gut vorbereitet sein. Heute Abend wird der Gehsteig vor dem Waschsalon bei mir um die Ecke in einem Blumenmeer versinken. Der Mann, der sonst gerne bei der Waschsalonaufseherin herumlungert, wird dort sitzen, Sträuße für 15 Dollar feilbieten und sich ausnahmsweise feingemacht haben.
Erst einmal aber treffe ich meine alte Nachbarin, als ich nach der Post sehe. Sie kann nur schwer die Treppen steigen, sie kann kaum Englisch, und immer, wenn ich sie frage, ob ich ihre Einkäufe tragen darf oder ihr Hilfe anbiete oder auch nur einen schönen Tag wünsche, will sie mir sagen, dass ich sehr freundlich bin. Dann sagt sie: “Oh, you are beautiful.” Das ist der Code, den ich verstehe. Aber heute sagt sie: “Happy Mother’s Day.”
Ich antworte: “Oh, aber das ist doch erst morgen.” Sie strahlt mich an. Ich frage, ob ihre Kinder sie besuchen, und sie versteht mich. “Nein”, sagt sie, “ich habe doch keine Kinder.” Ich auch nicht. Aber ich sage ihr, dass wir wohl trotzdem einen schönen Muttertag haben können. Und schon bin ich wieder schön.
Christoph Berger
Mai 9
Ich kam gestern Abend am Leipziger Hauptbahnhof an. Es war 21 Uhr rum. Doch die Verkäuferinnen am Blumenstand waren noch im richtigen Stress. Fünf von ihnen waren nur mit der Vorbereitung von Sträußen beschäftigt, zwei organisierten den Verkauf. Ich wünschte ihnen, dass auch sie von ihren Kindern etwas Nettes und Schönes geschenkt bekommen. Selbst dann, wenn sie wieder den ganzen Tag in ihrem Blumenladen stehen müssen und wohl wenig von dem Tag haben.