New Yorker recken ja nicht so oft die Hälse, und deshalb fällt es mir auf, als ich an die Straßenecke komme. Dem Herdentrieb folgend schaue ich, wohin die anderen schauen. Und dort sehe ich das hier:

Bauarbeiter Unfall New York

Einen Bauunfall. Ein vom Dach hängendes Baugerüst ist halb heruntergekommen, zwei Arbeiter standen darin – und hängen jetzt fest. Drei Kollegen stehen auf dem Dach des Hochhauses.

Ja, ja, ja, die Bildqualität lässt zu wünschen übrig. Aber Unfälle richten sich nicht nach dem optimalen Stand der Sonne. Und bei so einem Actionfoto ist die Qualität offenbar erst mal ganz egal. Jedenfalls bei den lokalen Fernsehsendern.

Zwei von ihnen kontaktieren mich nämlich nur Minuten, nachdem ich Folgendes auf Twitter gestellt habe:

 

Sie hätten das Foto gern für ihre Berichterstattung. Der eine fragt mich direkt nach Veröffentlichungsrechten für alle Medien, die zum Sender gehören. Der andere bietet mir an, dass ich als Urheberin genannt würde.

Unterdessen erscheinen die Polizei und die Feuerwehr. Kurz darauf sehe ich einen Fotografen in zweiter Reihe halten und mit Riesenobjektiv davoneilen. Unfall-Paparazzo, denke ich, und dann halte ich einen Moment inne. Wenn ich da jetzt weiter zuschaue, dann könnte es passieren, dass ich etwas Schreckliches miterlebe. Das Gerüst hängt an zu wenigen Seilen etwa in Höhe des 13. Stocks (was natürlich gar nicht geht, weil es dieses Stockwerk in den abergläubischen USA nicht gibt).

Bauunfall Feuerwehr

Die Feuerwehr fährt eine Leiter aus. Reicht nicht. Ein wenig rangiert der Leiterkranführer (oder wie heißt das?), aber es sieht mehr nach einem Plan B aus. Oben neben dem Gerüst ist ein Fenster aufgeschoben, ein Mann in blauer Uniform scheint mit den beiden Bauarbeitern zu sprechen. Ein Geschirr kommt zum Einsatz, ein Seil. Und dann verlagern die beiden Arbeiter ihre Standorte.

Der obere schafft es auf den Fenstersims, mit den Beinen weit ausgestreckt an der äußeren Wand des Gerüsts. Es hält still. Einige sehr lange Sekunden vergehen, dann verschwindet der Mann langsam im Fenster. Der andere ist ganz unten im Gerüst. Der Uniformierte beugt sich wieder heraus, er scheint ganz ruhig zu erklären, wie die Retttung ablaufen soll. Der Bauarbeiter klettert weiter hoch, in Richtung Fenster, und bekommt weitere Instruktionen, es sieht auch so aus, als hantiere er mit einem Seil von oben.

Bauarbeiter Gerüst Unfall

Ich atme erst auf, als der Arbeiter komplett im Haus verschwunden ist. Das Gerüst zeugt immer noch von dem Bauunfall.

Unten ist derweil die komplette Kreuzung abgesperrt, es wimmelt vor Polizeiwagen, Feuerwehr, Krankenwagen. Natürlich stehen Polizeiautos dabei auch in zweiter Reihe. Das Fernsehen tut es ihnen nach. Habe ich die jetzt etwa mit meinem Foto angelockt?

Fernsehen und Polizei am Unfallort

Die Kamera-Crews machen, was sie bei Unfällen und anderen Tragödien immer machen: Sie suchen Leute, die sie interviewen können. Ich fände es ja cool, wenn der Mann in der blauen Uniform (später lerne ich, dass es kein Feuerwehrmann, sondern ein Mitglied der NYPD Emergency Service Unit war) erklären würde, wie man Leute aus am Hochhaus baumelnden Baugerüsten rettet. Aber die Fernsehkameras stehen nicht vor dem Wagen der NYPD.

Polizei Krankenwagen nach Bauunfall

Auf der anderen Seite des Krankenwagens steht noch eine Kamera. Ich frage mich, welchen Neuigkeitswert es hat, soeben gerettete Bauarbeiter zu belagern. Aber ich tauge ja bekanntlich nicht zur Nachrichtenreporterin dieser Art. Den Nachrichten zufolge sagten sie übrigens “We are fine, no problem”.

New Yorker Bauarbeiter leben gefährlich. Einmal im Jahr gibt es einen Gottesdienst nur für Menschen, die bei Baustellenunfällen ums Leben gekommen sind. In diesem Jahr fand die Construction Workers Mass am 28. April statt, die Besucher gedachten dabei 16 Kollegen.