Heute ist es wieder passiert: Ich bin nicht überfahren worden. Das hat aber nichts damit zu tun, dass sich die Gesetze für Fußgänger in New York bald ändern sollen.

Ich hatte grün. Das nenne ich immer noch so, obwohl die Fußgängerampeln in New York nicht von kleinen grünen Männchen bevölkert sind, sondern von weißen. Da kam ein grauer Linksabbieger heran und blieb stehen, aber hinter ihm scherte ein schwarzer SUV aus und preschte vor. In irgendeinem Paralleluniversum meißelte ein Steinmetz drauf los: “Sie hatte Vorfahrt”, von Trauerflor umringt.

Im New Yorker Universum machte ich einen Satz, ohne den Fahrer aus den Augen zu verlieren; ich hatte ja schließlich nebenher die typisch New Yorker Fußgängerinnenaufgabe zu erledigen, den Beinahemord mit tödlichen Blicken zu rächen.

Wir nennen es Jaywalking

Dass ich heranrauschende Todeskarossen überhaupt und dann auch noch rechtzeitig wahrnehme, hat mir New York beigebracht. Jedenfalls glaube ich das. Wie die anderen New Yorker gehe ich ständig über rote Ampeln – und das schärft die Sinne. Dabei muss man nämlich aufpassen.

Was wir Jaywalking nennen, ist eigentlich verboten, wird in New York aber im Gegensatz etwa zu Los Angeles nicht mit Strafzetteln geahndet, weil die hiesige Polizei dann zu nix anderem mehr käme.

Anarchie im Straßenverkehr! Ach nee doch nicht.

Wer die große Kunst des Jaywalking beherrscht, folgt ungeschriebenen Gesetzen. Wir gehen erstens nicht chaotisch vor, zum Beispiel mitten im Häuserblock rüber, sondern da, wo eine Ampel steht. Und zweitens gucken wir, was los ist.

Jaywalking rote Ampel New York

Manhattan besteht zum Großteil aus Einbahnstraßen. Wer sich als Fußgänger einer Kreuzung nähert, weiß also, aus welcher Richtung Verkehr zu erwarten ist – schaut aber trotzdem auch in die andere Richtung. Allein schon wegen etwaiger Radfahrer, die Regeln überflüssig finden und verkehrtherum durch Einbahnstraßen fahren.

Egal, was die Ampel sagt … Du guckst, ob die Straße frei ist.

Das schreiben die New Yorker Verkehrsbehörden übrigens den Fußgängern selbst dann vor, wenn sie das Signal zum Gehen haben. Ob mir nun ein weißes Männchen gegenüber steht oder eine rote Hand: Ohne Unterschied stellt sich mein Blick automatisch dem Verkehr entgegen.

Ob ich gehe oder stehenbleibe (oder mitten auf der Straße einen Satz machen muss), das entscheide ich mit Blick auf die Autos und Räder. Das ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich mich bei Besuchen in Deutschland fürchte: Die Autos kommen ja von allen Seiten! Und die Fußgänger gehen, als gäbe es keine Linksabbieger!

In New York müssen sich dagegen viele Besucher daran gewöhnen, sich selbstverantwortlich in den Verkehr zu werfen. Aber wer sich auch hier ganz genau nach der Ampel richtet, muss auch aufpassen. Das ist nämlich nicht so, wie ihr denkt.

Die New Yorker Ampeluhr: The Final Countdown?

An manchen Ampeln erscheint kurz nach dem weißen Männchen eine Zeitanzeige, die Sekunden herunterzählt. Das ist quasi das Verkehrspendant zu “whenever you’re ready” im Restaurant; beides bedeutet meistens: Jetzt aber hurtig! An der Ampel gibt es außerdem die Variante der blinkenden roten Hand. Das ist das “gelb” für Fußgänger: Achtung, gleich wird die Ampel rot.

Blinkt oder zählt es, soll man den offiziellen Regeln zufolge von der Straße herunter – aber nicht mehr noch eben schnell vom Bordstein aus losdüsen. Das allein würden sicherlich viele Menschen falsch verstehen, wenn nicht in New York sowieso alle jederzeit loslaufen, sofern die Straße ihnen frei genug erscheint. Aber die Blinkhand bzw. Ampeluhr bringt noch eine Spitzfindigkeit mit.

Mitschuld für überfahrene Fußgänger

Kommt es zu einem Unfall mit Fußgängerbeteiligung, dann kommen die Autofahrer oft glimpflich oder sogar straffrei davon, selbst wenn es Todesopfer gab. Dabei sind New Yorker Statistiken zufolge Fußgänger nur in sieben bis acht Prozent der Unfälle Schuld.

Und die Ampeluhr führt ganz besonders in die Irre. New Yorker genießen nämlich nur dann Vorfahrt beim Straßeüberqueren, wenn das weiße Männchen es erlaubt. Ansonsten heißt es: selber Schuld.

Das erscheint aber vielen Leuten als ungerecht. Und deshalb soll das entsprechende Gesetz nun geändert werden: Fußgänger in New York bekämen dann auch rechtlichen Schutz, wenn die Uhr tickt oder die Hand blinkt.