Seit gut einem Jahr gehören Demonstrationen in New York zum Alltag. Doch diesmal ist etwas anders, und diese Erkenntnis windet sich über das Gehör ins Hirn. Wie üblich knattern Hubschrauber, als seien wir ein Verkehrsstau oder ein spektakulärer Unfall, und auf dem Weg zur Marschroute geht es durch enge Gassen. Polizeibarrikaden trennen Demonstranten von Passanten, noch ehe überhaupt etwas angefangen hat. Bis wir losmarschieren dürfen, wird es noch dauern. Protestchöre überbrücken ein Stück Zeit und künden vom Wandel. Buchstäblich.
“Change! Now! Change! Now! Change! Now!”
Es fehlen Bässe. Plötzlich klingt auch das in den Demonstrationen der letzten Monate allgegenwärtige “This is what democracy looks like” (so sieht Demokratie aus) wie der Chor aus Pink Floyds “The Wall”. Nur dass aus diesen Kehlen ganz bestimmt nicht der Satz “We don’t need no education” schallen würde. Die Protestchöre ebenso wie den March for Our Lives selbst führen Kinder an. Sie wollen in die Schule. Und zwar lebendig.
Immer wieder sterben in den USA Kinder durch Waffengewalt. Nicht nur durch Amokläufer, die Massaker in Schulen anrichten wie vor mehr als fünf Jahren in einer Grundschule in Sandy Hook oder zuletzt in einer Highschool in Parkland, sondern auch durch Schüsse und Querschläger in den Gegenden, in denen sie wohnen oder zur Schule gehen. Und jetzt haben sie genug.
Sie fordern Waffengesetze, die ihr Leben sicherer machen – und damit auch die active shooter drills überflüssig machen, bei denen Schulkinder Verhalten bei gewaltsamen Übergriffen im Klassenraum üben müssen. Doch Politiker zögern. Viele sehen dahinter die Macht der Waffenfan-Vereinigung NRA (National Rifle Association), die vor allem republikanische Kandidaten über Jahre sehr großzügig mit Spenden bedenkt.
Doch die Botschaft von Schülerinnen und Schülern aus Parkland hat sich in Windeseile verbreitet, und so formieren sich immer mehr Gruppen zum March for Our Lives. Verzweifelt verbreitet die NRA Lügen über die Kinder. Die geplanten Demonstrationen würden von Superreichen gesteuert, die Waffen hassen. Aber das nutzt nichts.
Als wir uns für ein erstes Stückchen bis zum nächsten Korrall in Bewegung setzen und hinter den mit Sand gefüllten Müll- und Streuwagen hervorkommen, die seit ein paar Jahren in New York zum Blockieren von Straßen eingesetzt werden (ganz egal, ob dahinter der Präsident bei einer Spendenveranstaltung speist oder Demonstranten die Straße füllen), bekomme ich einen Eindruck, wie groß der Protest allein in New York ausfällt. Auf dem Gehweg an der Seite, den Polizeibarrikaden für Passanten freihalten sollten, drängen sich so weit das Auge reicht Leute, die erst noch zum Startpunkt des Protestmarschs wollen.
Als wir uns in Bewegung setzen, halten die Wartenden ihre Plakate über die Gitter. Ein kleiner Junge, den ich auf acht bis zehn schätze (ich bin nicht gut im Alterschätzen, aber ihr könnt ihn in den Fotos oben ja selbst einschätzen), schwingt sind auf ein Baugerüst und ruft:
“Hey, hey, NRA – how many kids did you kill today?”
(Hey, NRA, wieviele Kinder habt ihr heute schon umgebracht?)
Viele Stimmen gesellen sich dazu. Auch tiefe Stimmen. Und manche der Protestchöre werden von richtig alten Leuten angeführt. Es laufen Großmütter für den Frieden an mir vorbei und Mathelehrer, die kein menschliches Schutzschild sein wollen und jede Menge anderer Leute (und Beweggründe).
Als wir am Trump International Hotel vorbeikommen, senken sich die Stimmen. Buhrufe gehen in “shame”-Rufe über, tief und wütend und ganz schön unheimlich. Dann legen sich hellere Stimmen darüber, und alle anderen verstummen.
“We need a leader, not a creepy tweeter!”
(Wir brauchen eine Führungspersönlichkeit, nicht einen gruseligen Twitterer)
Später, als wir die letzten Blöcke bis zum Ende der Marschroute laufen, kriecht mir die Müdigkeit in die Knochen. Abermals höre ich Kinderstimmen, die seltsam schnell lauter werden. Vier Kinder rauschen auf mich zu, und sie sind so schnell, dass ich nach vorn hechten muss, um noch einmal zu versuchen, ihre Plakate – allen voran eines mit einem Harry Potter-Verweis – zu fotografieren.
“We’re not gonna stop till we get what we want”, rufen sie dabei. Und dann sind sie an mir vorbeimarschiert. Das ist die Jugend von heute.
Ganz egal, wie oft jemand behauptet, sie sei an ihrem Telefonbildschirm festgeklebt . Oder unengagiert. Oder von Milliardären gesteuert.
Mehr solcher Geschichten aus New York? Melde dich für die Wochenschau an.
mo.
März 25
Seit zwei Jahren habe ich massiv den Respekt vor den USA verloren. Das liegt nicht nur an Trump, sondern den Menschen die ihn stützen. Das liegt nicht nur an Trump, sondern an gierigen Menschen wie Zuckerberg & Co. Das liegt nicht nur an Trump, sondern einem so massiv gespaltenen Land mit so missgebildeten Strukturen und Ideen, wie sie die NRA im Sinne des Kapitalismus vertritt.
Wenn ich dann sehe, wie die Jugend versucht – hoffentlich nicht nur weil es cool ist – zu rebellieren, um etwas einzufordern, dass so offensichtlich ist, dann ist das ein erster wichtiger Schritt. Ich hoffe, denen geht nicht die Puste aus. Die müssen weiter machen. Und das sicherlich noch ein Jahr bis was entscheidendes passiert.
Holger Schluck
März 25
Signs of Hope . . .
Petrina Engelke
März 25
Lieber Mo,
ich verstehe deine Kritik an den USA gut und ich hoffe, mein Beitrag hilft dabei, auch die Vielfalt in Gesellschaften wie den USA, aber auch Deutschland zu sehen. Denn wer nur auf den vielzitierten Spalt schaut, kann meiner Ansicht nach nur verlieren (das politische Prinzip “teile und herrsche” gab es ja schon im alten Rom). Bei uns hier gibt es nicht nur Trump und Anti-Trump, nicht nur gierige Bosse und selbstlose Aktivisten, sondern jede Menge Ideen und Taten dazwischen; Die Protestsprüche geben dafür vielleicht ein paar Anhaltspunkte. Obendrein sind die fünf Teenager, die den March for Our Lives in Gang gesetzt haben, möglicherweise etwas auf der Spur, auf das sich alle einigen können: Kinderbeschützen – oder wie auch immer du es nennen willst.
Was das Weitermachen betrifft: Im Bundesstaat Vermont hat der Senat Anfang März einen Entwurf für schärfere Waffengesetze gebilligt, auch die zweite Kammer hat am Freitag vorläufig Zustimmung signalisiert, die endgültige Abstimmung darüber wird voraussichtlich am Dienstag stattfinden. Die Schülerinnen und Schüler, die in dem Bundesstaat am Samstag auf die Straße gingen, riefen unter anderem “Unterschreib das Gesetz” an die Adresse ihres republikanischen Gouverneurs Phil Scott. Reportern gegenüber sagten sie, das Gesetz sei dann … nur ein erster Schritt.
Und schon im November wählen US-Staatsbürger auf Bundesebene bei den so genannten mid-term elections, lokal/regional gibt es sogar schon in den Monaten davor Wahlen. Bereits jetzt weisen Medien und Organisationen auf öffentlich zugängliche Daten darüber hin, welche Politiker Geld von der NRA angenommen haben und wieviel.