Ich habe die Schlagzeilen über das Dekret des Präsidenten gelesen. Und das Dekret selbst. Und mich gewundert. Nee, mehr als das.

Statt das geplante Interview mit einem New Yorker Flohmarkt-Veranstalter für Moment: New York fertigzumachen, habe ich meine ganze Zeit (und die halbe Nacht) darauf verwendet, das herauszukristallisieren, was da gerade in der US-Ausländerpolitik gesagt und geschrieben wird und passiert, und was das eigentlich heißt – auch auf gut Deutsch. New York kommt dabei auch vor.

Aus meinen Recherchen habe ich eine kurze Sonderfolge meines Podcasts “Notizen aus Amerika” gemacht, die ihr euch hier anhören könnt – es sind nur 8 Minuten:

Den Podcast findet ihr auch als RSS, bei Diensten wie iTunes und in vielen Podcast-Verzeichnissen  (zum Beispiel hier oder dort). Meistens könnt ihr dort “Notizen aus Amerika” abonnieren – Dann bekommt ihr automatisch mit, wenn eine neue Folge in den Äther geht. Ihr lest lieber? Dann gibt es hier das Transkript (ohne den üblichen Podcast-Vorspann):

Kinderlager und Nebelkerzen

Rachel Maddow hat geweint. So was verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Erst war herausgekommen, dass das US-Justizministerium angeordnet hatte, Asylsuchende einzusperren – und dabei Eltern ihre Kinder wegzunehmen. Als obendrein die Meldung von eingesperrten Babys hereinkam und sie das im Fernsehen vorlesen sollte, hat Rachel Maddow geweint. Aber dann hat Melania was getwittert, sie findet das mit den Kindern auch scheiße, und statt Tränen tropft Geifer: Ehekrise auf Kosten der Kinder, ein Klassiker!

Und dann kommt der Präsident mit diesem Erlass um die Ecke. Ich sag heute übrigens dessen Namen nicht, aus Trotz. Jedenfalls: executive order, camera, action. Ich sehe eine Schlagzeile.

Und noch eine. Und noch eine. Und … noch eine.

Es ist zum Knochenkotzen und dann auch noch der Tag, an dem ich mich schämte, Journalistin zu sein.

Journalistinnen finden die wichtigen Fragen, kratzen so lange an der Oberfläche, bis man sieht, was darunter liegt, sortieren Blickwinkel auseinander, stellen Zusammenhänge her. Sie finden die passenden Worte for die Wahrheit. Hab ich gedacht. Hoch die Latte!

Doch plötzlich sehe ich massenhaft Überschriften, die nicht die Wahrheit in Worte fassen, sondern eins zu eins kopieren, was der Präsident gesagt hat – der ein notorischer Lügner ist, wie viele Journalisten ansonsten nicht müde werden zu beweisen. Aber jetzt nicht. Auch in Deutschland nicht. Ich hab’s gegoogelt, und ihr wisst ja, das Internet … vergisst nichts.

„President signs executive order to end family separation today“

“US-Präsident beendet umstrittene Trennung von Einwandererfamilien”

„Trennung von Migrantenfamilien – US-Präsident reagiert auf Kritik“

Heiliger Bimbam! Als wäre das Dekret eine gute Nachricht – spoiler alert: im Gegenteil! – und der Präsident ein dicker Buddha, auf dem Kinder herumkrabbeln.

Noch während ich mich frage, ob irgendwer dieser Überschriftendichter das Dekret denn wohl mal gelesen hat, sehe ich die nächsten Bilder. Spontan erscheinen am New Yorker Flughafen La Guardia hunderte Menschen. Auf ihren Plakaten steht „Wir kämpfen für euch“ auf Spanisch. Das Dekret kreiselt aus dem news cycle, aber spätabends bringen Flieger aus Texas Kinder von Asylsuchenden, die dann in irgendwelche Heime im New Yorker Umland gekarrt werden.

Im Magazin The Root erzählt Michael Harriot von der Begegnung mit einem Mitarbeiter eines der Anwälte, die sich mit den Fällen der auseinandergerissenen Familien befassen. Der sagt, dass es gut und gerne passieren kann, dass die Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, diese nie wiedersehen werden. Und dann sagte er: “That’s some Gestapo shit, man.” Das ist vielleicht ein Gestapo-Scheiß, Alter.

Der Artikel dreht sich übrigens um die schweigende Mehrheit und heißt „White People Are Cowards“. Weiße sind Feiglinge.

Kaum sagen Melania und der Papst was gegen die Sache mit den Kindern, sagt der Präsident das auch. Die Familien sollen jetzt nicht mehr auseinandergerissen werden, behauptet er. Er hat nämlich ne super Idee: Dann sollen die Blagen eben mit ihren Eltern in den Knast! Der Late Night-Comedian Stephen Colbert sagt dazu: So wie die Kinder des Präsidenten! Aber das geht gar nicht, und auch das gibt der Präsident seinem Volk schriftlich.

Laut Dekret sollen Kinder gleich an der Grenze mit ihren Eltern zusammen festgesetzt und dann in Lager gesperrt werden, und zwar auf unbegrenzte Zeit. Dafür soll das US-Militär hurtig Platz schaffen, in Kasernen oder ach, egal, irgendwas werden die ja wohl bauen können. Du fliehst vor lebensbedrohender Gewalt in deiner Heimat? Na warte. Bei uns wirst du auf unbestimmte Zeit in nicht existenten Behausungen hinter Stacheldraht eingesperrt.

Hat man so was schon gehört?

Ja, hat man. Dafür gibt es viele Worte, gerade auch auf Deutsch. Eins davon heißt … Ankerzentrum.

Aber das, was da in den Schlagzeilen steht vom Ende der Familientrennung, das geht gar nicht. Steht sogar im Dekret:

Das Justizministerium müsste erst mal eben eine Kleinigkeit aus dem Weg räumen, ordnet der Präsident da in Section 3 c an – nämlich das Flores Settlement irgendwie wieder aufheben. Mit dieser Entscheidung hat eine Richterin festgelegt, dass Kinder, die an der Grenze auflaufen, nur allerhöchstens 20 Tage lang festgehalten werden dürfen. So eine Begrenzung ist natürlich ungünstig, wenn man eigentlich gerade einführen will, dass Asylsuchende ohne Verfahren endlos eingesperrt werden dürfen.

Macht aber nix! Bleibt diese juristische Vorgabe bestehen, kann der Präsident die Familientrennung schon in knapp drei Wochen fröhlich weiterführen und die Schuld dafür einer Richterin und den Kongressabgeordneten in die Schuhe schieben. Und auch das lenkt prima vom Thema ab. So wie Melania.

Oh shit! Jetzt hab ich da hingeguckt, auf die Jacke beim Kinderknastbesuch! “Mir doch egal, dir auch?”, steht da drauf. Yeah, ein Stück Wahrheit!

In Wahrheit ließe sich die Grausamkeit an der Grenze so abschaffen, wie sie eingeführt wurde: Der Präsident und sein attorney general könnten einfach ihre Anordnung an die Grenzpolizei zurückpfeifen. Bis April dieses Jahres hat sie Menschen, die ohne Einreisegenehmigung unsere südliche Grenze überschreiten, nach dem Aufgreifen – haltet euch fest – meistens in Freiheit auf ihr Asylverfahren warten lassen.

Aber die US-Regierung will lieber Käfige für die Gattung homo sapiens auf Militärgelände stellen, sagt dazu zero tolerance und meint zero Ausländer. Erst mal. Im Land geborene Frauen, Nicht-Heterosexuelle und Non-Binäre stehen schon auf der Abschussliste. Schwarze Amerikaner werden ja schon abgeschossen.

Teile und herrsche. Sprich irreführend. Und wirf zur Sicherheit mit Nebelkerzen um dich. Weinende Kinder sind nicht der Skandal. Massenlager sind der Skandal.