Jetzt bin ich am hellichten Tag im Bordell gelandet. Ich sitze an einem Tisch, auf dem ein uralter Revolver liegt, und blättere durch das Angebot, das Madame mir diskret zugesteckt hat. Die anbetungswürdige New Yorker Erfindung des Poetry Brothel ist heute auf Governors Island zu Gast (sonst meistens im Back Room), und es gibt ein kleines Problem: Im Moment ist nur eine Dame da, bei der man einen zuvor gekaufen Chip einlösen kann, um sich in einem der Zimmer oben privat unterhalten zu lassen. Und dorthin ist sie gerade mit einem Herrn verschwunden. Um ihm vorzulesen.

Also muss ich mich erst mal mit dem herrlichen Drumherum zufriedengeben: Viktorianisch-inspirierte, gewagte Kleider an Madame und der vielbeschäftigten Dichterin, raschelnde Vorhänge, gedämpftes Licht und vielversprechende Biografien der Damen und Herren des Hauses. Die haben es ja sonst schwer genug – mit Dichtkunst ist schwerlich Brot zu verdienen. Hier lockt schon am Eingang Poesie.

Allerdings sind draußen über 30 Grad (Celsius, wohlgemerkt).