Durch New York streifen, zu Veranstaltungen gehen, mich unter die Menschen mischen, fotografieren: Auf absehbare Zeit werde ich nicht das tun können, was früher die Grundlage meiner Geschichten aus der irrsten Stadt der Welt war. Deshalb hatte ich sowohl in der Wochenschau als auch im Newsletter gefragt, was euch hier im Blog am liebsten wäre. Mit Abstand gewonnen hat: einmal im Monat die Apfelpresse. Na dann mal los. Ich werde versuchen, die Nachrichten aus New York zu Mini-Geschichten mit dazugehörigem Link umzufunktionieren – und euch damit immer wieder ein Stück New York zu Coronazeiten nach Hause zu liefern.
Protest! Warum New Yorker*innen sich weiterhin die Sohlen ablaufen
Im Mai haben Demonstrationen plötzlich sehr viel Medienaufmerksamkeit bekommen, und wie in anderen Städten haben sie auch in New York nicht aufgehört. Ich hatte ja schon einmal darüber geschrieben, warum ich eine Berichterstattung fragwürdig finde, die sich auf Festnahmen oder “Ausschreitungen” konzentriert. Hier nun als Update: Auch weiterhin gehen viele Menschen auf die Straße, um für gleiches Recht für alle einzutreten, für eine Reform der Polizei, für Rechenschaftspflicht und Transparenz in Fällen von Polizeigewalt.
Die New Yorker Proteste finden auch heute wieder wie jeden Tag parallel in verschiedenen Vierteln statt (Beispielvideo bei ABC New York). Eine Übersicht vieler geplanter Proteste bietet zum Beispiel “NYC Protest Updates 2020” auf Twitter. Und die Menschen gehen nicht nur gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrieren. Zu den größeren Protesten zählen zum Beispiel auch Klima-Aktionen, und der Womens March hat ebenfalls angekündigt, noch vor der US-Wahl erneut Proteste an vielen Orten den USA zu organisieren. Sie sollen am 17. Oktober stattfinden, und in NYC sind bislang 4 Märsche angemeldet. Die drei Hauptthemen beim Womens March sind: die Neubesetzung des Supreme Court-Sitzes der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg, #MaskUp, also Aufklärung über den Schutz vor dem Coronavirus, und #DefundPolice, also die Neuordnung der Polizeihaushalte dahin, dass Gemeinden mehr Geld in Sozialarbeit, psychologische Notdienste etc. stecken, die der Polizei Arbeit erleichtern oder abnehmen und Verbrechensraten senken. (Karte mit geplanten Demos und Info zum Womens March auf der Website)
Eigentor für die Polizei
Na toll, gleich am Anfang breche ich mein Versprechen und schreibe erst mal nicht die coole Geschichte, sondern über mich selbst. Genauer gesagt über etwas, das meine geistigen Fähigkeiten übersteigt. Die NYPD findet ja derzeit wie die Polizei in anderen Städten wegen brutaler Gewalt unter der Lupe wieder. Da hätte ich gedacht, alle Leute, die für die Polizei arbeiten, geben sich jetzt besonders Mühe zu zeigen: “Wir sind doch hier die Guten, und diese Brutalinskis sind Einzelfälle, das haben wir im Griff!” Aber stattdessen gehen sie mit Gewalt gegen Leute vor, die gegen Gewalt demonstrieren. Das verstehe ich nicht, und da bin ich offenbar nicht alleine.
Inzwischen ist die Gewalt, die von der Polizei auf friedliche Demonstrant*innen ausgeübt wird, sogar ein Fall für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geworden. In einem 99-seitigen Untersuchungsbericht stellt sie fest, dass ein besonders brutales Vorgehen der NYPD am 4. Juni “eine geplante Operation war, die die New Yorker Steuerzahler*innen Millionen kosten könnte”.
Die Stadt New York muss sich nämlich auf einen Batzen Klagen einstellen. An diesem 4. Juni hatte die Polizei in der Bronx einen friedlichen Protest kurz vor dem Einsetzen der Ausgangssperre eingekesselt und dann mit oft brutalen Massenfestnahmen wegen Verletzung der Ausgangssperre begonnen. Die Polizist*innen verletzten dabei mindestens 61 Demonstrant*innen, unbeteiligte Passant*innen und unabhängige Beobachter*innen (Knochenbrüche, Platzwunden, ausgeschlagene Zähne, blaue Augen etc.), hielten am Ort Sanitäter*innen davon ab, diese zu behandeln, hielten die meisten hinterher stundenlang ohne medizinische Behandlung in Gewahrsam, und so weiter. Und nicht nur das. Der Bericht bestätigt auch Vorwürfe, dass die gesamte Aktion vorab von der NYPD geplant worden war. (Zusammenfassung bei Human Rights Watch; es gibt auch einen Videobericht von Human Rights Watch und SITU Research, aber Achtung: Er enthält verstörende Gewaltszenen!)
Geheime Höhle in Manhattan entdeckt
Unter dem Grand Central Terminal kam unlängst Erstaunliches ans Scheinwerferlicht: ein verborgener, von Menschen eingerichteter Raum. Die Entdeckung läutete aber nicht etwa die Rückkehr der legendären Mole People ein, sondern … den Anfang von Ermittlungen. Eine Schlafcouch, ein Kühlschrank mit etwas Inhalt, ein selbstgezimmertes Schränkchen in exakt der Größe des darüberhängenden Fernsehers: So überraschend der Ort ist, die Einrichtung inklusive leerer Bierflaschen gab den Ermittelnden wenige Rätsel auf. Für diese Mischung haben wir hierzulande sogar einen Namen: man cave (Männerhöhle). Drei Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe sollen dort getrunken, ferngesehen und gefaulenzt haben. Offen ist bisher, ob sie das während der Arbeitszeit machten. (Nachlesen bei CNN)
Ansteckungsschutz? Da haben wir was für Sie!
New York hat jetzt einen Laden für Coronabedarf. Mitten in Manhattan, in der Nähe des Herald Square, wo vor der Pandemie gefühlt mindestens die Hälfte der Tourist*innen zu Macy’s strömten. Logisch, dass Masken, Desinfektionsmittel, Plexiglasschutz und Luftfilter eine gute Geschäftsidee abgeben – allerdings stammt sie nicht aus dem hiesigen Einzelhandel. Der Immobilienhändler und Restaurantbesitzer Tony Park hat sich direkt um Schutzausrüstung gekümmert, als er sein koreanisches Restaurant Samwon Garden um einen Lieferservice erweiterte. Das war schließlich das Einzige, was Restaurants in NYC zu Beginn der Pandemie noch machen durften. Dann wurden andere Restaurants und Büros darauf aufmerksam, sagt Park – und nach seiner eigenen Aussage hatte er längst beste Lieferbeziehungen aufgebaut, um genug Desinfektionsmittel, Masken und so weiter zu beschaffen. So gibt es in seinem Laden auch Dinge, die für den Privatgebrauch nicht so wichtig sind, etwas Plastikfolienspender fürs Klo. (Sortiment angucken auf der Website vom CV19 Essential Shop)
Von der Hand in den Mund
Das Los der Restaurants beschäftigt die Menschen in New York wohl so sehr wie anderswo. Aber insbesondere in Manhattan haben viele nicht nur eine Lieblingskneipe, sondern auch ihren ganz speziellen Lunch-Foodtruck in der Nähe vom Büro. Dessen Besitzer*innen stehen vor dem Nichts: Ihr Geschäft beruht darauf, dass sie sieben Tage die Woche viele Stunden lang Essen verkaufen, und nun fehlen angesichts der Pandemie die Büroleute und Tourist*innen, die Menschenmassen in den Straßen. Eine wohltätige Stiftung hat in den letzten Wochen 30 dieser Imbissverkäufer*innen zurück in ihre Wagen geholt – und sie Gratis-Essen für andere New Yorker*innen kochen lassen, die nicht mehr genug Geld für Essen haben. Das Programm hat also Not an zwei Ecken gelindert – es ist aber diese Woche ausgelaufen. (Nachlesen im Gothamist)
Solokonzert beim Wort genommen
Im Frühjahr hatte ich mich mal damit befasst, was die Kulturszene sich so alles ausdenkt, um über die Runden zu kommen – und um uns zu inspirieren oder wenigstens ein bisschen abzulenken. Inzwischen haben zwar einige der großen Museen wieder geöffnet, aber das heißt nicht, dass jetzt alles so weiterlaufen wird wie vor Corona. Geht ja auch gar nicht. Die Pulitzerpreis-gekrönte Komponistin Ellen Reid hat einen Weg gefunden, Kultur an die neuen Gegebenheiten anzupassen: Ihr Werk gibt es ausschließlich im Doppelpack mit jeder Menge Frischluft, und Abstand und Maske stören dabei auch nicht. “Soundwalk” ist speziell für verschiedene Ecken des Central Parks geschrieben – und hören kann sie nur, wer dort ist; sie wird per GPS in einer App aktiviert, da hört also jede für sich im Kopfhörer, was übrigens noch mal extra bei der kleinen Realitätsflucht hilft. Eingespielt wurden die Stücke von Musiker*innen der New Yorker Philharmonie, des Young Peoples Chorus New York und des Jazz-Ensembles Poole and the Gang. (Mehr Infos auf der Website)
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