Viele Menschen messen ihre Arbeit in Stunden. Andere lesen am Kontostand ab, was sie geleistet haben. Am Muskelkater. Oder an der Anzahl der Brote, die aus dem Ofen kommen. Caroline Weaver misst ihre Arbeit in Bleistiften.
Jeden Montag zieht sie einen neuen Bleistift aus der Schublade. Für den Rest der Woche soll er stets in der Nähe ihres Denkzentrums bleiben; während Caroline über den College-Campus läuft, wippt er in ihrem Pferdeschwanz mit, griffbereit für jede Notiz, jede Skizze, jede Nachricht. Kleiner und kleiner wird er dabei, schließlich verschwindet er. In einem datierten, durchsichtigen Umschlag nämlich, fein säuberlich an die Wand genagelt.
„Es war erstaunlich, was nach ein paar Monaten an dieser Wand hing“, sagt Caroline. „All die Bleistifte aus diesen vielen Wochen zu sehen war ein toller Gradmesser dafür, wie produktiv oder kreativ ich war.“
Dieser Arbeitsmengenmesser wachte über Carolines Atelier, als sie in London Kunst studierte. Inzwischen wohnt sie in New York, der Pferdeschwanz ist einer Natalie Wood-Frisur gewichen, es hängen auch keine Bleistifttüten mehr an der Wand. Das wäre reine Platzverschwendung: Caroline hortet heute schließlich viel, viel mehr Bleistifte als je zuvor.
Tagebucheintrag, Einkaufszettel, Briefe – ständig schreibt Caroline in graphitgrau. Nur für die Unterschrift unter einem Scheck nimmt sie einen anderen Stift zur Hand. „Es ist schön, etwas zu benutzen, das es schon so lange gibt und das im Prinzip gleichgeblieben ist“, sagt Caroline. „Die Menschen vor hundert Jahren haben genauso geschrieben wie ich jetzt. Das kann man beim Benutzen eines iPhones nicht sagen.“
Ein Laden voller Bleistifte
Bleistifte stehen bei ihr in Gläsern zusammengepfercht auf reihenweise Regalbrettern, liegen in einer Schublade mit Trennwänden, stapeln sich höchst ordentlich in Schachteln. Einen trägt sie als ellenlange Tätowierung auf dem Unterarm. Ein paar seiner hölzernen Kollegen hängen derweil tatsächlich wieder an einer Wand – sie sind die Promis unter Carolines Bleistiften, unter Glas ausgestellte Sammlerstücke mit Geschichte. Und mit Preisschild.
„CW Pencil Enterprise“ steht draußen an der Tür. Im März hat Caroline auf einer verhältnismäßig ruhigen Straße der Lower East Side einen Bleistiftladen eröffnet. Unterdessen versucht eine Handvoll Aktivisten, die Stadt vor der Gleichförmigkeit der großen Ketten und die kleinen Buch- und Plattenläden, Schuster oder Hutläden vor dem Verschwinden zu retten. Fachgeschäfte haben in New York einen schweren Stand.
Aber Caroline setzt sich fast jeden Tag vor einen roten Samtvorhang und verkauft Bleistifte. Die kosten zwischen 25 Cents und fünf Dollar, von den historischen Schätzen einmal abgesehen. Da kann sie gleich mal mit einem besonders spitzen Bleistift rechnen: Damit der Umsatz Laden und Leben in New York trägt, müssten ja Tausende dieser Waren in den hübschen gelben Umschägen verschwinden, die Caroline für jede Kundin mit schwarz-weißem Faden zuschnürt!
Carolines Geschäftsmodell kommt so aberwitzig daher, dass selbst die Platzhirsch-Presse über den winzigen Laden berichtet: New York Times, New York Magazine, Vice, Fox, sogar der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg.
„Ehrlich gesagt: Am Anfang dachte ich, dass ich niemals ein tragfähiges Geschäft nur mit dem Bleistiftverkauf aufziehen könnte. Zu meiner großen Überraschung funktioniert das aber!“, sagt Caroline ein paar Monate nach der Eröffnung. Ganz naiv hat sie ihre ersten Schritte in die Unternehmerinnenwelt gemacht. Allerdings nicht mit Bleistiften.
Kunst, Ehrgeiz und eine haarige Idee
Marietta (im Bundesstaat Ohio) findet Caroline ganz schön doof. Wie soll man da später irgendetwas Renommiertes vorweisen, das einen auf ein richtig gutes Kunst-College bringt? Carolines Eltern haben nun einmal diese Kleinstadt zum Zuhause erkoren – doch sie lassen sich auf einen Deal ein: In den Sommerferien darf ihre Teenagertochter Kunstkurse in New York belegen.
Im Nachhinein ist es kaum zu sagen, ob es nun diese Kunstkurse sind, die Caroline mit 15 auf ihre erste Geschäftsidee bringen, oder ihre Designerinnen-Mutter, ihr Ehrgeiz, die pure Langeweile. Jedenfalls bastelt Caroline Haarschmuck und denkt sich: „Ich mache einfach eine Website und verkaufe die Sachen, die ich gemacht habe.“ Damit fällt sie auf, der Haarschmuck landet in Magazinen, verkauft sich glänzend – und brockt Caroline ein Riesenproblem ein.
„Ich landete an dem Punkt, an dem ich nicht mehr gleichzeitig dieses Geschäft führen und zur Schule gehen konnte“, sagt Caroline. Sie verlässt die Schule und erkundigt sich nach Alternativen. Frühmorgens und spätabends sammelt sie schließlich am örtlichen Community College die restlichen Punkte für den Schulabschluss.
Tagsüber arbeitet sie in ihrem Atelier, schickt Ware durchs Land und asphaltiert ihre persönliche Karriereautobahn mit Haarschmuck. Aber pünktlich zum offiziellen Erwachsenenalter fällt Caroline auf, dass sie ja eigentlich noch ganz jung ist.
„Ich hatte das Gefühl, dieses Geschäft hetzt mich ins Erwachsensein“, sagt Caroline. „Mir wurde klar, dass ich noch viele Jahre Zeit dafür haben würde, eine eigene Firma zu führen. Deshalb sagte ich mir: Mach langsamer, geh aufs College, hab ein bisschen Spaß, sei eine Jugendliche. Und dann schau einfach mal.“ Zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag zieht Caroline nach New York.
Weit gereist, der Bleistiftliebe treu
Lange bleibt sie in New York allerdings nicht. „Ich dachte: Wenn ich mal für eine Weile im Ausland leben möchte, ist ein Studentenvisum der einfachste Weg, einfacher wird es nicht.“ Ihre Bewerbung an einer Kunsthochschule in London geht durch, Caroline genießt die praxisorientierte europäische Ausbildungsmethode, läuft mit Bleistift im Haar durch die Stadt – und kriegt es einfach nicht hin, sich einen ganz normalen Nebenjob zu suchen.
Stattdessen lernt sie, wie man Papier marmoriert, und stellt dann Briefpapier her. Karten mit passenden Umschlägen, selbst deren Futter ist marmoriert. „Das klingt total durchgeknallt“, lacht Caroline. „Aber es hat Spaß gemacht und es lief auch ziemlich gut, wenn man bedenkt, dass das bloß mein College-Job war. Es war auf jeden Fall besser, als für jemand anderen zu arbeiten.“
Doch das Marmorpapiergeschäft lässt sie ebenso hinter sich wie den Roman, den sie für ihre Abschlussausstellung schreibt – ein Leseraum voller Regale, auf dem nur Exemplare dieses einen Buchs stehen, das sie nie „richtig“ veröffentlicht. Irgendwo im Keller steht noch eine Kiste voll. „Ich habe eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Ich tue nichts für sonderlich lange Zeit“, sagt sie. Das gilt allerdings nicht für ihre Bleistiftleidenschaft.
Auch die Idee mit dem Bleistiftladen kam ihr schon vor langer Zeit. Wenn sie genug von ihrem Arbeitsleben hat, dann soll das ihr Rentnerinnenjob werden, später einmal. Doch obwohl sie nach dem Studium wieder nach New York geht und dort auch einen Job findet, wird nichts aus den Langzeitplänen.
Mit 24 hat Caroline schon ihren Bleistiftladen in New York. Vom College fast auf direktem Wege ins Rentnerinnenparadies? Caroline lacht. „Genau. Ich bin 24 und im Ruhestand. Das hier macht allerdings viel mehr Arbeit als ein Rentnerinnenjob.“
Analoges Schreibgerät als Neuheit für SMS-Tipper
Gut 250 verschiedene Bleistifte machen sich in Carolines Sortiment breit, sie kosten so wenig, dass es den meisten schwerfällt, nicht doch einen oder zwei mitzunehmen. Hinzu kommen ein paar deutlich teurere Sachen: Ein japanisches Bleistiftset aus edlen Hölzern in limitierter Auflage kostet 120 Dollar, ein Luxus-Anspitzer gar 500 Dollar. Aber auch die ganz regulären Bleistifte bringen etwas ein.
Drei Stunden ehe sie die Ladentür für Kunden öffnet, sitzt Caroline schon da und packt Päckchen. Ihr Geschäft hat sie Ende 2014 zunächst online ausprobiert – und dort wartet eine ganze Bleistiftfreundegemeinde. Manche Leute bestellen direkt für 100 Dollar, andere wollen jede Woche einen neuen Schwung Bleistifte.
„Je mehr die Technologie fortschreitet, desto mehr spricht die Leute analoges Schreibgerät an. Das ist der Reiz des Neuen bei Dingen, die nicht mehr unentbehrlich sind“, sagt Caroline. So mancher Kunde im Laden ist ein ebensolcher Bleistiftfanatiker wie sie. Zum Beispiel der, der auf dem berühmten New Yorker Friedhof Green-Wood arbeitet und weiß, dass der deutsch-amerikanische Bleistiftfabrikant Eberhard Faber dort begraben liegt. Im September wird Caroline dort einen Vortrag über den Mann halten, viele Artefakte zeigen und schließlich zusammen mit dem Publikum das Grab besuchen.
Was New York-Touristen zu den Bleistiften zieht
Caroline lässt sich etwas einfallen, um die Leute zum Bleistiftschreiben zu bekehren. Schließlich kommen viele nur deshalb in den Laden, weil sie die Idee so lustig finden. Und dann sind da noch die Touristen.
Niemand hätte damit gerechnet, dass New York-Besucher weit weg vom Times Square extra in einen vielleicht 20 Quadratmeter großen Raum pilgern. Doch dass ein Bleistiftladen auf der Liste mit Empire State Building, High Line und Nike Store landet, ergibt durchaus Sinn.
„Touristen suchen immer etwas, das abseits der üblichen Attraktionen liegt, sie fühlen sich gern als Entdecker“, sagt Caroline. Ein Bleistift mit schwarz-gelbem Muster ist dadurch zu einem Renner geworden. In so manchem Koffer liegt er als „New York Taxi-Stift“.
Dabei stammt er aus der Schweiz.
Aufgepasst: Dies ist nur der erste Streich. Der zweite folgt sogleich, nämlich als dieses Interview mit Caroline Weaver über … na, was meint ihr wohl.
CW Pencil Enterprise, 110A Forsyth Street, inzwischen umgezogen: 15 Orchard Street, Lower East Side/Chinatown. Di-sa 11-19 Uhr, so & mo 12-19 Uhr. Und dann gibt es ja noch den Webshop dazu.
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