Anderswo stürzen die Leute sich auf Kontaktanzeigen. Die New Yorker Intelligentsia liest stattdessen wie besessen Nachrufe in der New York Times. Insider nennen sie “Obits” (kurz für “obituaries”), lerne ich. Denn im Moment umgeben mich Nachruf-Fans, die einen scharren mit den Füßen, die anderen strömen immer noch hinein in den Raum, und die allermeisten haben das eine oder andere weiße Haar. Man schaut zuerst auf die Nachrufe, um sich zu vergewissern, dass man nicht drinsteht, hat George Bernhard Shaw sinngemäß gesagt. Im Moment schielt man eher auf leere Stühle.

Wer einen leeren Platz neben sich hat, möge bitte die Hand heben. Es soll ja möglichst jeder einen Sitzplatz bekommen, der William McDonald zuhören will. Der erzählt kurz darauf von seinem Job als Nachruf-Redakteur bei der New York Times. Die Zeitung leistet sich immer noch diese Abteilung, die mit dem Sport zusammen die meistgelesenen Geschichten liefert. Sechs Vollzeit-Reporter arbeiten dort, auch andere Ressorts liefern ihnen zu, und trotzdem sind sie mit der Arbeit immer hinterher.

55 Millionen Menschen sterben weltweit im Jahr, das macht weit mehr als 150.000 am Tag. Doch nur drei Nachrufe bringen McDonald und seine Kollegen pro Ausgabe heraus, und weil die Nachrufe nicht – im Gegensatz zu Todesanzeigen – mit dem Geldbeutel herbeigeklingelt sind, treffen sie eine schwere Wahl. Wer hat in seinem Leben die Welt verändert? Osama Bin Laden. Steve Jobs. Whitney Houston. Der Erfinder der TV-Fernbedienung. Ein Pornostar. “Wir schreiben über das Leben”, sagt McDonald. Und das sind ganz schön viele Leben.

Manchmal müssen sie einen Nachruf auf den nächsten Tag schieben, doch dann sterben ja auch Leute, und so treibt seine Redaktion zuweilen einen Rückstand vor sich her. Gleichzeitig gilt es im Auge zu behalten, wer bald das Zeitliche segnen könnte. Alte, Kranke und Abenteurer. Rund 1500 vorbereitete Nachrufe hat die Redaktion in der Schublade.

“Man kann aber den Tod nicht vorhersagen”, sagt William McDonald. So ist es auch der NYT-Nachruf-Buchreihe ergangen: Der erste Sammelband hieß “Obits” und kam 2011. 2012 gab es noch eine Ausgabe, diesmal mit einem reißerischeren Titel (“The Socialite Who Killed A Nazi With Her Bare Hands”). Aber die Bücher verkauften sich nicht so gut, wie der Verlag es sich ausgerechnet hatte. Dabei sah nicht die zweite, sondern die erste Ausgabe aus wie ein Grabstein.

 

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