Auf der Treppe nach unten erhasche ich einen Blick auf die U-Bahn. Die U-Bahn steht da schon, aber mein Schritt bleibt in seinem Tempo. Früher bin ich losgelaufen. Heute weiß ich, dass ich keine Chance habe, so eine Bahn in New York noch mitzukriegen, aber eine gute Chance, mich auf die Nase zu legen. Wer rennt, hat keine Ahnung.
Fast immer sind es solche Kleinigkeiten, die mir verraten, dass ich in New York angekommen bin – und aufpassen muss, dass ich beim Schreiben meine Perspektive auf das Auswärtigenstaunen einstelle und nicht schulterzuckend und leer in die Ferne. Been there, done that.
Als dann die Bahn noch mit offenen Türen dasteht, ahne ich Böses. Das bedeutet, es gibt ein Problem. Eine der seltenen Bahnsteigansagen kündigt gar schon den nächsten Zug an. Da steige ich wieder aus.
Ich weiß, dass ich am Union Square eine komplett andere Linie nehmen kann, die nicht allzuweit von dort hält, wo ich hinwill, und diese Alternative ist nur eine Haltestelle vom Astor Place entfernt, wo ich eigentlich losfahren wollte. Ein Glück für mich, und Glück muss man in New York sofort beim Schopfe fassen. Noch ahne ich nicht, dass schon wieder eine Tragödie auf mich wartet.
Erst einmal erscheint mir der stehende Zug nervig-normal. Immer deutlicher zeigt sich dieser Tage, wie überlastet die öffentlichen Verkehrsmittel in New York sind. Viele Probleme haben sich da zu einem gordischen Knoten geballt.
Drinnen stecken unter anderem enorm gestiegene Fahrgastzahlen – 2016 zählte die MTA unter der Woche einen Rekord von durchschnittlich 5,7 Millionen U-Bahn-Fahrten pro Tag. Dieser Ansturm prallt auf veraltete Technik, die nicht im großen Stil modernisiert wird, sondern fast nur da ersetzt oder geflickt wird, wo etwas kaputtgegangen ist. Dass die New Yorker U-Bahn 24 Stunden am Tag fährt, und zwar jeden Tag, macht nötige Verbesserungen schwierig.
Außerdem bewältigt kein Verkehrssystem der Welt unbegrenzt viele Fahrgäste. Vielleicht stößt New York einfach an die Grenzen dessen, was die vorhandenen Linien befördern können. Und neue Strecken wurden schon ewig nicht mehr gebaut, abgesehen von zwei kurzen Stückchen.
Statt alles daran zu setzen, dieses Problemknäuel zu entwirren, haben die Spitzen der Stadt New York (die nicht zuständig ist, aber mit Ideen und Extramaßnahmen helfen könnte) und des Bundeslands New York (zuständig und je nach Interpretation unwillig, unfähig oder ahnungslos) sich in einem typischen Dicke-Eier-Kerle-“Mit dir rede ich nicht”-Blödsinn verloren.
Aber auch das ist noch nicht alles. Als ich zu Fuß an der nächsten Station angekommen bin, hat die ebenfalls kritisierte Kommunikation der MTA doch mal eingesetzt. Eine Tafel und Durchsagen warnen nicht nur vor Verspätungen, beziehungsweise dem Stillstand, sondern verraten auch den Grund.
Ein Unbefugter auf dem Gleis ist Schuld! “Kerl, als hätten wir nicht schon genug Probleme, müssen die Leute da jetzt auch noch auf den Gleisen herumturnen?”, schimpft einer. Mich schaudert.
Leider kommen jedes Jahr zig Leute auf die Idee, sie müssten ihr heruntergefallenes Handy selbst wiederbeschaffen oder was auch immer sie sonst so aufs Gleis ploppen lassen. Und dann stellen sie fest, dass man erstens sehr, sehr sportlich sein muss, um von da unten wieder auf den Bahnsteig zu kommen, und zweitens die nächste U-Bahn schneller kommt als erwartet.
Für so einige von ihnen ist diese Erkenntnis die letzte im Leben. Dass trotzdem immer wieder Leute aufs Gleis springen, um etwas zu holen, finde ich eher ärgerlich. Schaudern lässt mich etwas anderes.
Ein Mensch auf dem Gleis kann vieles heißen. Es sind auch schon Leute aus Verzweiflung vor den Zug gesprungen, andere wurden von Geisteskranken und Hasserfüllten da runtergeschubst.
Erst vor zwei Wochen saß ich in einer New Yorker U-Bahn, die noch vor dem Bahnhof bremste, erst plötzlich, dann in langsamer Fahrt, dann so, dass sie stehenblieb. Danach fuhr sie im Schneckentempo in den Bahnhof ein.
Mein Waggon glitt an einer Menschentraube vorbei, mehrere Leute beugten sich über jemanden, der am Boden lag. Umgekippt vielleicht, dachte ich. Ungefähr eine Waggonlänge danach kam die U-Bahn zum Stehen. Dann öffneten sich die Türen, und ein Pärchen kam herein, der Mann schimpfte wie ein Rohrspatz und ließ sich neben mir fallen. “Deswegen haben die Bahnen nämlich immer Verspätung”, rief er, “wegen solcher Idioten.”
Wir blieben mit offenen Türen am Bahnsteig stehen. Vier Leute habe es gebraucht, um den hochzuhieven, echauffierte sich mein Sitznachbar, und ich wollte ihn schon dazu beglückwünschen und mich freuen, neben einem Helden zu sitzen. Doch auf meine Frage, ob er da mitgeholfen hatte, schüttelte er wütend den Kopf und sagte: “Es ist Vatertag, verdammte Scheiße, wer bringt sich denn ausgerechnet da um?”
Die Menschentraube hatte sich verlaufen, abgesehen von drei Männern. Der größte von ihnen hatte dem Liegenden aufgeholfen, von hinten hielt er ihn noch. Fast zärtlich sah das aus. Bis der andere urplötzlich vom Kartoffelsack zur sich windenden Schlange wurde und bald schon losrannte, auf mich zu, dann einen Haken schlug, die Treppe hoch, aus meinem Blick.
Ich hörte einen Knall, so wie wenn jemand voller Zorn irgendwo draufhaut oder vortritt. “Na toll, sieh bloß zu, dass du Land gewinnst, Hauptsache, du kommst nicht wieder hier herunter”, brüllte ihm der Muskelmann hinterher. Er wartete noch eine Weile, den Blick auf die Treppe geheftet, bevor blasse Menschen herunterkamen und der hünenhafte Retter in den Waggon hinter meinem einstieg.
Man will ja nicht erst einen Selbstmörder retten und dann zusehen, wie er es noch mal versucht. Und als einer, der eben vor einen Zug gesprungen ist, will man nicht auf die Polizei warten. Was würde die dann eigentlich machen? Ihn in die Psychiatrie fahren? Muss er den Einsatz bezahlen?
Der Mann neben mir schimpfte unaufhörlich weiter. Ich hörte nicht hin. Ich war damit beschäftigt, dass ich eben einem sehr jungen Mann ins Gesicht geblickt hatte, den nur vier andere Männer und ein reaktionsschneller Zugführer davon abgehalten hatten, sich umzubringen.
An dieses Gesicht dachte ich, als ich die Mitteilung der MTA las. Das war gestern Abend. Heute früh lese ich die Lokalnachrichten. Wer auch immer da gestern auf den Gleisen war, ist tot. Er wurde nicht überfahren, sondern er starb an einem Stromschlag vom third rail, durch das der U-Bahn-Strom läuft.
Comments are off this post