In Reiseführern heißt das Beaux Arts-Gebäude an der Ecke 42nd Street und Fifth Avenue schlicht New York Public Library, und ich frage mich seit Jahren, wie viele Leute deshalb wohl denken, wir hätten hier nur ein einziges Haus voller Bücher.
Die NYPL hat 88 Filialen in Manhattan, der Bronx und Staten Island; Brooklyn und Queens haben ihre eigenen Stadtbüchereisysteme. Doch ausgerechnet dieses Bauwerk, das oft als Zentrale der NYPL betrachtet wird, beherbergt zwar jede Menge Literatur. Aber es lässt auch Besserwisser frohlocken, wenn mal wieder in einem Film jemand mit einem Stapel Bücher die Treppen herunterläuft.
“So ein Quatsch!”, rufen die dann mit übertriebener Empörung. “Diese New York Public Library ist eine reine Präsenzbibliothek!”
Berühmte Bücherei – aber die Bücher bleiben dort
Ausleihen kann man dort nichts, aber nachforschen, und zwar mit fachkundiger Hilfe. Herrlich ist das, so ein riesiges Gebäude für Leute, die mehr wissen wollen als das, was Wikipedia und Internetsuchmaschinen ausspucken. Rund 15 Millionen Werke versammeln hier menschliches Denken, in das sich jeder (und meist kostenlos) vertiefen darf, von Comics und Baseball-Sammelkarten über Sachbücher und Romane bis zu mittelalterlichen Schriften.
In diesem oder jenem holzgetäfelten Lesesaal sucht ein Journalist nach Informationen über einen bislang weißen Fleck auf seiner Landkarte von Niger, recherchiert eine Schriftstellerin Details für ihren nächsten Roman (etwa, wie es am Hof eines russischen Zars oder im Büro eines Wall Street-Gurus zugeht), da hockt ein Antiquitätensammler über Katalogen, mit deren Hilfe er ein Flohmarktschnäppchen einzuordnen hofft, während sich eine Designerin von uralten Tapetenmustern inspirieren lässt.
Warum eine Leihbücherei in den Keller der New York Public Library zieht
Doch jetzt wirbelt die NYPL die Regeln durcheinander: Plötzlich weisen Plakate auf eine Leihbibliothek hin!

Seht ihr das verwirrende rote Plakat da links? Das ist doch gar nicht die Mid-Manhattan Library! Eigentlich jedenfalls …
Alles nur, weil ein weiteres Gebäude sich anschickt, zur Sehenswürdigkeit zu werden. Schräg gegenüber vom Stephen A. Schwarzman Building – benannt nach einem Wall Street-Banker, der mit seiner 100-Millionen-Dollar-Spende auch eine Umbenennung erkaufte – steht unauffällig die Mid-Manhattan Library, eine mehrstöckige Zweigstelle der (komplett kostenlosen) Leihbücherei. Sie wird modernisiert, und die Pläne sehen verheißungsvoll aus. Allerdings müssen die Bücher erst einmal weichen, die Türen sind für drei Jahre geschlossen.
Und so kam es, dass plötzlich doch Leute mit Büchern unter dem Arm zwischen den beiden Löwen hindurchgehen (deren Geschichte ich auch schon einmal erzählt habe). Die temporäre Leihbücherei befindet sich im Keller der NYPL, und der Weg dahin beeindruckt mit dickem Marmor, Holz und Licht.
Unten stehen die beliebtesten Bücher in einer Reihe einfacher Regale, alles andere lagert hinter den Kulissen, und eifriges Personal holt, was man braucht. Quasi wie oben in den Forschungsabteilungen, nur dass man hier tatsächlich etwas ausleihen darf.
Problem gelöst, könnte man sagen. Wenn da nicht die Nachbarn wären.
Nachbarn klagen gegen New Yorker Bücherei
Die Besitzer von Luxuswohnungen neben der Mid-Manhattan Library finden es unmöglich, dass aus der im Muff der 70er zurückgebliebenen Bibliothek ein heller, moderner Hort der Bücher und Bildungsveranstaltungen werden soll. Denn das macht doch bestimmt Dreck! Und Krach! Und vielleicht kann man ja außerdem Kapital draus schlagen? Die Wohnungseigentümer fordern für die Unannehmlichkeit 15.000 Dollar im Monat von der Bücherei und versuchten, die Gebühr mit allerlei Fisimatenten zu erzwingen.
In der örtlichen Presse kam es nicht gut an, dass Besitzer von Luxusimmobilien Geld von einer Nonprofit-Organisation haben wollen, die New Yorker mit Büchern und Bildung versorgt. Unsere Stadtbücherei ist nämlich keine öffentliche Einrichtung, sondern ihre Geschichte beruht auf Geldgebern. Ein Gutteil des Büchereiennetzes in Manhattan wurde von Andrew Carnegie gebaut, und noch heute wirbt jede Zweigstelle permanent um kleine und große Spenden.
Kurz nach der Nachbarschaftsklage kam ein weiterer Großspender an Bord. 55 Millionen Dollar sollen dabei helfen, die Renovierung der Bibliotheksfiliale pünktlich zu beenden. Danach wird auch die Mid-Manhattan Library einen neuen Namen tragen – nach dem Sponsor, der Stavros Niarchos Foundation. Büchereien sind also möglicherweise die neuen Stadien, und ich bin gespannt, ob diese Entwicklung trotz der unterschiedlichen Vorgeschichte auch nach Europa schwappen wird.
Kirsten
Oktober 20
Wow, das wird ein Paradies für Lesewütige, die Mid-Manhattan Library, liebe Petrina!
Das deren Bücher Asyl in den Katakomben der NYPL finden, ist natürlich großartig!
Ich bin gespannt wie es weiter geht.
Herzliche Grüße an dich,
Kirsten
Petrina Engelke
Oktober 20
Ja, liebe Kirsten,
ich freue mich schon auf die neuen Räume und bin gespannt, wie sie letztendlich aussehen werden (um das Design gab es viel Gerangel). In drei Jahren werde ich hoffentlich dann Fotos von dort zeigen können!
Unterdessen fehlen mir die tollen Veranstaltungen der Mid-Manhattan Library, aber die anderen Büchereien haben ja auch ein gutes Programm.
Liebe Grüße nach Hamburg!
Petrina
Susanna Mende
Oktober 23
Vielen Dank, sehr informativ, vor allem das Gerangel hinter den Kulissen bekommt man hier (in Berlin) ja nicht so mit. Außerdem habe ich kürzlich gelesen, dass die ursprüngliche Bibliothek einmal Astor Library hieß, benannt nach dem deutschen Auswanderer John Jacob Astor, die dann 50 Jahre nach Astors Tod (1848) mit der Lennox Library und dem Tilden Trust zur New York Public Library zusammengelegt wurde. Auf der Frontseite der Bibliothek gibt es anscheinend eine Inschrift, die an ihn erinnert, und im Innern die nach ihm benannte Astor Hall.
Petrina Engelke
Oktober 23
Liebe Susanna,
freut mich, dass ich auch für Expertinnen etwas Neues beitragen kann! In der Geschichte muss man unterscheiden zwischen der Institution, also der NYPL insgesamt, und ihrem bekanntesten Gebäude.
John Astor – zu seinem Tod der reichste Amerikaner – hat per Testament in der Tat eine Bücherei gründen lassen, sie eröffnete 1849 und befand sich dort, wo heute Joe’s Public Theater ist. Sie war zwar recht gut besucht, aber man durfte dort nichts ausleihen. Außerdem hatte James Lenox seine Sammlung seltener Bücher in eine weitere Präsenzbibliothek (vor allem für Akademiker) überführt, die befand sich dort, wo heute die Frick Collection ist.
Wenige Jahrzehnte später wies zudem der Ex-Gouverneur von New York, Samuel Tilden (gest. 1886), in seinem Testament den Großteil seines Vermögens der Gründung einer Bücherei zu, die auch ein Ausleihsystem hatte. Die Astor und Lenox Libraries hatten Ende des 19. Jahrhunderts dagegen Finanzprobleme. Der Verwalter von Tildens Erbe, John Bigelow, kam deshalb auf die Idee, die beiden anderen mit ihren Bücherschätzen ins Boot zu holen. So entstand eine Fusion aus vier wohltätigen Organisationen: die New York Public Library, Astor, Lenox, and Tilden Foundations.
Nach deren Gründung kam Andrew Carnegie mit einer noch höheren Summe dazu, mit der 39 Zweigstellen entstanden, und währenddessen hatte der Bau des Gebäudes begonnen, um das es in meinem Text geht. Er eröffnete im Jahr 1911.
Oh, darüber sollte ich vielleicht eine eigene Geschichte schreiben?!
Liebe Grüße
Petrina