Schmerz und Tunnelblick ziehen einander an. Wenn alles wehtut, siehst du nur noch, was fehlt. Gerechtigkeit. Oder Gesundheit. Liebe, Fairness, Zukunft. Dieser eine Mensch, dein Gestern, die Abwesenheit von Schmerz. Und wenn du mit Tunnelblick durch die Welt stapfst, ist Schmerz nicht weit. Links, rechts, oben und unten übersiehst du, was dich umhauen kann. Ein Bus zum Beispiel. Oder der Anblick einer Lücke.

Die, also die Lücke, ist eigentlich das Thema des Denkmals auf dem Bild da oben. Doch in diesem Blickfang verschiebt sich die Optik.

Blickfang der Woche

“Empty Sky” heißt das Denkmal der ArchitektInnen Jessica Jamroz und Frederic Schwarz, das direkt gegenüber vom Ground Zero im Liberty State Park in Jersey City (New Jersey) steht. Zum 10. Jahrestag von 9/11 wurde es eingeweiht, mit einer Gedenkzeremonie für die 749 aus New Jersey stammenden Menschen, die am 11. September 2001 in Manhattan von Terroristen ermordet worden waren (insgesamt starben bei den Anschlägen 2996 Menschen). Die Konstruktion führt den Blick auf die Lücke, die die beiden Türme des World Trade Center hinterließen. Und jetzt ahnt ihr vielleicht schon, dass an meinem Foto etwas nicht stimmt.

Empty Sky 9-11 Denkmal Liberty State Park New Jersey

Die beiden stahlumhüllten, neun Meter hohen und einen Dreiviertelmeter dicken Mauern sind 63,65 Meter lang. Das entspricht einer Seitenlänge des Wolkenkratzerfundaments, auf dessen Standort sie ausgerichtet sind. In Manhattan klaffen dort zur Erinnerung tiefe Löcher. Am Rande der New Yorker Gedenkstätte sind neue Wolkenkratzer entstanden, stolz ragt das One World Trade Center unter ihnen heraus. Drüben in New Jersey verändert das die Perspektive.

Peilt man im baulich vorgegebenen Tunnelblick, bleibt das One World Trade Center verborgen. Jedenfalls erst mal. Ich muss hinein ins Denkmal. Und wenn ich dann dem Tunnelblick trotze, den Kopf drehe und dann mich selbst, einmal um meine Achse, mich auf eine Seite schlage, meinen Blick und auch meine Linse in allen möglichen Winkeln auf die Welt loslasse, dann verändert sich meine Perspektive. Die eingravierten Namen der Toten sind zum Greifen nah, hinter ihnen schaut mich mein Spiegelbild an. Vor mir flüchtet ein tunnelartiges Zerrbild Manhattans. Und dann rückt das One World Trade Center in mein Visier.

So kann ich kein symmetrisches Foto machen, wie es die ungeschriebenen Gesetze aus der “Beliebteste Bilder auf sozialen Netzwerken”-Fibel verlangen (und ich mach auch keins, da ich grad drauf und dran bin, meine Fähre zu verpassen und um mich rum zig Leute sind, die ja auch nicht drauf sein dürfen auf solchen Fotos). Meine Perspektive ist schräg, dieser Blickfang ist krumm und schief. Und wahr.

Die Lücke ist da, immer noch. Der Schmerz auch. Der Tunnelblick und der Schmerz ziehen sich an, aber sie sind nicht alleine hier. Ich sehe, was fehlt, und ich sehe, was gewachsen ist. Ich sehe, was ich nur sehen kann, wenn ich den Rest kenne. Eine Lücke. Erinnerung. Aber auch Zukunft. Brav so geguckt, wie die Köpfe hinter diesem Denkmal sich das gedacht haben – und dann gestaunt, was sie sich nicht erträumten.

Jamroz und Schwartz haben bei der Einweihung selbst gestaunt. Denn da schien plötzlich die Sonne. Und die spiegelt sich zu bestimmten Tageszeiten nicht nur in der Skyline Manhattans, sondern auch im Stahl von “Empty Sky”. Dann erscheint da, wo ihr jetzt die Spiegelung der Wolkenkratzer seht, zuweilen ein gebogener Sonnenstrahl. Ein Lichthof, ein Heiligenschein, der genauso schnell vor dir davonschwebt, wie du dich bewegst.

Empty Sky“, das 9/11 Memorial, findet ihr im Liberty State Park in Jersey City (New Jersey). Von Manhattan aus fährt eine Fähre zum Park, die Haltestelle ist ca. 10 min vom Denkmal entfernt.