„Wir sind hier nicht im Zoo“, sage ich.

Au Backe. Jetzt rasselt dieses kleine, stachelige Ding los, das in mir lebt und alles besser weiß, noch besser als ich, und mich so gerne piekst. Na, war das denn nötig?, fragt es ohne Worte. Und hüpft mir quer übers Gewissen.

Nein, war es nicht. Das gebe ich natürlich nicht zu. Eine weitschweifige Erklärung spare ich mir aber auch. Nach einer Stunde im überhitzten, unterbeseelten Raum voller Ego, Schweißflecken und Ablieferdruck kommt mir die Frage gerade recht.

Die Frau mit den grün geschminkten Augen schießt zielgerichtet auf mich zu, vielleicht, weil ich alleine dastehe, oder vielleicht sagen ihr meine Haare auch, dass so jemand bestimmt Ahnung hat, jedenfalls fragt sie, was jetzt kommt. Wohin wir gehen werden. Und ich sage ihr, dass wir bloß ein Lager anschauen können, wenn wir wollen. Wo sie Sachen lagern. Wie man das so macht in einem Lager, aber das sage ich nicht. Und dass wir dazu zehn Minuten hier durch die Gegend gehen.

„Sehen wir die Flüchtlinge denn dann auch, die Familien?“, fragt sie. Und dann sage ich das mit dem Zoo. Blitzschnell sagt sie so was wie „ach ja, klar“. Ich muss mir das falsche Lächeln nachher mit Seife und heißem Wasser von der Backe putzen. So klebrig!

Im Büro des Refugee Resettlement Center

Die Einladung in ein Refugee Resettlement Center in Jersey City (quasi gegenüber von Manhattan) kam an einem Donnerstag. Noch vor der neuen Zeitrechnung. Am Tag vor Paris. Da kam ich noch ganz leicht auf die Liste. Und dann wurde sie rappelvoll.

Flüchtlinge Pressetermin

Hussam Alroustom (l.) ist aus Syrien geflüchtet. Mahmoud Mahmoud (r.) leitet das NJ Refugee Resettlement Center.

Mahmoud Mahmoud, der Leiter der Einrichtung, soll dort vor der ausländischen Presse sprechen, und auch ein syrischer Flüchtling namens Hussam Alroustom. Vorab gab es Links zu individualisierbaren Flüchtlingsstatistiken, Kurzbiografien der beiden Männer und ein langes Transkript von einem Briefing mit Vertretern mehrerer US-Behörden, die erklärten, wie dieses Resettlement-Programm eigentlich abläuft, wie also Flüchtlinge zur Neuansiedlung in den USA zugelassen werden.

Aber das alles hatten offenbar längst nicht alle Leute in dem Raum gelesen. Was ich verstehe: Wir haben ja alle keine Zeit in New York, obendrein haben aber viele Journalisten ihre Vorgesetzten im Nacken, die Ergebnisse wollen. Menschen, Tiere, Sensationen. Panik, Meinung, Emotionen.

Ich habe schon fast das Gefühl, ich müsste rechtfertigen, wieso ich so viel Zeit darauf verwendet habe, das Prinzip zu verstehen. Ich bin Journalistin, aber in einem anderen Feld, also keine Nachrichtenproduzentin. Nachrichtenjournalisten arbeiten schneller als ich, und heute lerne ich, dass ich wohl kaum besser bin als sie. Aber anders.

Fragen an einen Flüchtling aus Syrien

Eine gute halbe Stunde, nachdem der Leiter des Zentrums und der Flüchtling sich hinter die Reihe aus Mikrofonen schlängelten, wir ihre jeweilige Geschichte hörten und schon so einige Fragen und Antworten, fragt jemand: „Wieso genau sind Sie denn geflüchtet?“ Das verwirrt beide (Mahmoud übersetzt, was Alroustom sagt). „Also was war denn der Auslöser?“

Der Mann hatte bereits von Homs erzählt, vom weggebombten Haus, von Bomben auf die nächste Unterkunft, von dem Sohn, der zum Autisten wird, von … aber offenbar taugt als Zitat nur ein ganz besonderer Moment. So wie man ja auch Fußballspieler fragt, wann genau sie denn wussten, dass sie das Spiel verlieren.

Wieso Amerika, fragt jemand anderes. Ich sag jetzt mal für euch: Die Flüchtlinge aus den Lagern rund um Syrien können sich das Land nicht so einfach aussuchen, weil sie nicht direkt zu den US-Behörden gehen dürfen, sondern über das Uno Hochkomissariat für Flüchtlinge (UNHCR) kommen – aber das hatte der Fragensteller wohl nicht auf dem Schirm.

Immerhin: Das UNHCR stellte dieser Familie auch Australien als Möglichkeit in Aussicht. „Ich wollte nach Amerika, weil sich hier alles um die Arbeit dreht“, sagt Alroustom. „Wir Syrer wollen keine Almosen, wir arbeiten gerne.“ In Homs hatte der Mann einen eigenen Supermarkt und eine Schmiede. In Jersey City arbeitet er an einer Maschine in einer Bäckerei.

Wie es bei einem Pressetermin über Flüchtlinge in den USA zugeht

Klack. Da fällt ein Kabel zu Boden. Eine Frau baut im Gedränge ihre Kamera ab und schiebt sich mit all ihren Sachen rückwärts aus dem Raum. Reflexartig halte ich das Stativ des Mannes neben mir fest. Ein anderer rückt in die Lücke. Doch etwas rumpelt in meine Schulter.

Energisch drängelt sich die Frau nach vorne zu den beiden Rednern. Sie fummelt ein bisschen, dann hat sie ein Mikrofon in der Hand. Alle anderen Mikrofone liegen auf dem Boden. Ein Schelm, wer „das war doch absehbar“ dabei denkt. „Wir unterbrechen hier am besten“, sagt der Leiter des Resettlement Center.

Jemand fragt ihn, ob er Duct Tape hat. Ich dachte immer, so was hätte jeder Kameramensch in der Tasche. Schließlich reicht jemand Klebeband nach vorne. „Das hätte ich aber gern zurück“, sagt der. „Das ist nicht von dem Büro hier, das ist meins.“ Die grau-silbrige Rolle bleibt neben den Mikros hängen, als die Fragestunde schließlich weitergeht.

Später vor dem Lagerraum soll das Hauen und Stechen weitergehen. Ihr kennt solche Lager bestimmt auch, zumindest aus dem Fernsehen: ein paar Etagen mit riesigen Räumen, aufgeteilt in ein Labyrinth aus Gängen, gesäumt von einem Rolltor nach dem anderen, hinter dem sich privater Krempel und Händlerware (und in Krimis außerdem Geldkoffer oder Leichen) stapeln.

Alles, was es zu sehen geben wird, sind Sachspenden für die Flüchtlinge. Möbel für die Wohnungen, die Organisationen wie CWS ihnen mit dem Nötigsten einrichten. Lattenrost, Stuhl, Lampe, Reiskocher. So was halt. Theoretisch könnte eine nach der anderen an der Tür vorbeigehen und ein Bild machen oder eine Einstellung drehen. Aber so läuft das nicht. Die meisten bekommen bloß eine Menschentraube zu sehen. Es sieht so aus, als fände ein Promi-Empfang statt.

Das Lager vom Refugee Resettlement Center

„Wir sind keine Terroristen.“

Vorher, im Büro des Resettlement Centers, stand nicht dessen Leiter, sondern der Flüchtling im Rampenlicht. Irgendwann fragt jemand, was ihn bewogen habe, vor die Presse zu treten. „Um eine Botschaft an alle Menschen zu senden: Wir sind keine Terroristen“, sagt er. „Menschen aus Syrien arbeiten gerne, sie wollen leben. Sie sind diejenigen, die vor den Terroristen fliehen.“

Davor sind die Fragen nach Terrorismus nur so auf ihn eingeprasselt, und manchmal klingt das fast so, als hätte er dazu Insiderinformationen, die man ihm bloß entlocken muss.

Ich stelle mir vor, mich würde jemand auf diese Art über Leute befragen, die in Deutschland Asylbewerberheime anzünden. Das ließe sich eins zu eins übersetzen: Woher sollen wir denn wissen, ob sich da unter deinesgleichen, also den Deutschen, die nach Amerika kommen, nicht diese Extremisten mischen? Und dann hier was Schlimmes machen? Findest du, die USA sichern sich da gut genug ab? Du bist doch Deutsche, jetzt sag doch mal, wie ticken Neonazis eigentlich?

Mich fröstelt. Dabei bin ich vor niemandem geflüchtet. Ich bewundere, wie geduldig der Mann aus Syrien versucht, die Fragen zu beantworten. Zum Beispiel danach, wie sich denn wohl erklärt, dass es „homegrown terrorists“ gibt. Also welche aus Belgien oder so.

Ich frage mich, ob der Typ, der da hinten in der Ecke steht, vielleicht ein belgischer Experte ist und jetzt ans Mikro tritt. Nee. Das soll der Syrer beantworten, der zwei Jahre lang in einem jordanischen Lager darauf gehofft hat, dass sein Antrag durchgeht, und bisher nichts erwähnte, was darauf schließen ließe, dass er dort die Verhältnisse in Belgien studiert hätte. Und in Amerika wohnt er auch erst seit ein paar Monaten.

Das Hilfsprogramm der christlichen Organisation, bei der wir zu Gast sind, beinhaltet auch finanzielle Unterstützung für die Flüchtlinge – für drei Monate. Und danach? Wenn es wer nicht schafft, sich binnen drei Monaten in einem fremden Land mit einer fremden Sprache und Kultur eine Basis zu schaffen?

„Das weiß ich nicht“, sagt der Leiter der Einrichtung. „Es ist noch nie vorgekommen.“

 

Wissenswertes über das Refugee Resettlement Program der USA

  • Das US-Recht unterscheidet zwischen “refugee” und asylee”.
    Refugees sind Flüchtlinge, die vor ihrer Ankunft in den USA die Erlaubnis bekommen, sich dort niederzulassen. Asylbewerber suchen zuerst in den USA Schutz und beantragen dann ein Bleibereicht. Für beide gelten dieselben Kriterien für Zulassung bzw. Ablehnung.
  • Resettlement bedeutet Neuansiedlung.
    Wer als Flüchtling im Resettlement Program zugelassen wird, darf überall in den USA wohnen und arbeiten. Nach einem Jahr muss er eine Greencard beantragen, fünf Jahre später kann er amerikanischer Staatsbürger werden.
  • Flüchtlinge können sich nicht direkt für dieses US-Programm bewerben.
    Sie brauchen zunächst eine Anerkennung als Flüchtlinge durch den UNHCR (die Uno-Flüchtlingsorganisation), der sie dann für bestimmte Drittländer empfiehlt. Das betrifft weniger als ein Prozent der Flüchtlinge in aller Welt (laut UNHCR-Statistik), von denen die USA mehr als die Hälfte aufnehmen (laut US-Statistik).
  • Das Prozedere nach dem ersten Antrag auf einen Neustart in einem Drittland dauert meist um die zwei Jahre.
    Welche Schritte für die Flüchtlinge dazugehören, könnt ihr in diesem übersichtlichen Ablauf in der New York Times nachlesen. Mit Syrern arbeiten die US-Behörden vor allem in Amman (Jordanien) und Istanbul (Türkei).
  • Nach ihrer Ankunft in den USA übernimmt eine von neun Hilfsorganisationen die Flüchtlinge.
    Sie besorgen ihnen vorab eine Wohnung und richten diese mit dem Nötigsten ein. Die Flüchtlinge bekommen dann sofort Sprachkurse, Hilfe bei Behördenangelegenheiten (die Kinder werden zum Beispiel sofort in der Schule angemeldet) und einen Orientierungskurs über Dinge wie Rechtliches und Steuern. Außerdem helfen diese Organisationen ihnen dabei, eine Arbeit zu finden. Nach drei Monaten endet das Programm.
  • Wie viele Flüchtlinge dürfen denn nach Amerika ziehen?
    Die USA legen jedes Jahr fest, wie Plätze für ein Resettlement sie an Flüchtlinge in aller Welt vergeben. 2015 sind es 70.000. Im Jahr 2016 erhöht sich diese Zahl auf 85.000 Flüchtlinge. Das Refugee Processing Center hat viele Statistiken über die Herkunft der Flüchtlinge.
  • Das Refugee Resettlement Center von CWS in Jersey City, das ich besucht habe, wurde im April 2015 eröffnet. Seither hat es 150 Flüchtlinge aus Ländern wie Äthiopien, Sri Lanka und Kolumbien betreut. Darunter sind auch vier syrische Familien. Die Stadt New York City hat bisher vier Syrer aus dem Resettlement-Programm aufgenommen.